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Die schweigenden Kanäle

Die schweigenden Kanäle

Titel: Die schweigenden Kanäle
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Pfiff zu ihm heruntergellte. »Sie haben ihn!« sagte er erregt in einer Gesangspause. »Geben Sie das Zeichen, Rico.« Dann sang er eine jubelnde Triole, die Cravelli entzückt in den Sessel drückte. Nach diesem Stimmwunder klang nun ein volles Orchester auf. Der ganze Canale Santa Anna schien mit Musikern vollgestopft zu sein. Lauten, Mandolinen, Handtrommeln, Geigen, eine Okarina, Geigen, Flöten und ein Bandonium vereinigten sich zu einer rauschenden Melodie. Als Krönung fiel eine silberhelle, schmetternde Trompete ein.
    Verdi! Cravelli seufzte. O dieser Verdi. Der Himmel besteht aus Musik, die Mauern, die Steine, das Wasser, alles ist nur Musik … Es ist ein Meer, das über einem zusammenschlägt, ein Meer, in dem man vor Wonne ertrinkt …
    Es war der Augenblick, in dem die Männer Taccios auf dem Dach die Geräte ansetzten und begannen, das Loch aufzureißen. Mit Haken und Brecheisen lösten sie die Pappe, dann stemmten sie die Latten durch und hieben sich einen Weg in das Gefängnis Dr. Berwaldts. Nebenan schliefen im tiefen Morphiumtraum die beiden Frauen. Das Knirschen und Krachen des Holzes wurde nun von dem Orchester übertönt, das Schmettern der Trompete überdeckte alle Geräusche.
    Dr. Berwaldt stand bebend an der Wand, als in dem größer werdenden Loch das dunkle Gesicht Taccios erschien.
    »Dottore!« rief er. »Dottore! Uno momento …«
    Er trat noch mehr zurück, mit gewaltigen Schlägen splitterte das Loch auf, eine Schulter erschien und warf eine Strickleiter in das Labor.
    »Avanti, Dottore!« rief die Stimme wieder.
    Dr. Berwaldt zitterte am ganzen Körper. Er machte die wenigen Schritte bis zur Strickleiter, er setzte den Fuß auf die erste Sprosse … aber dann verließen ihn die Kräfte. Die übermäßige Anspannung löste sich in einem Schwächeanfall. Er hing an der Leiter, umklammerte die Seile, aber er war nicht mehr fähig, emporzuklettern.
    »Dottore!« rief Taccio wieder. »Avanti …«
    »Ich kann nicht …«, stöhnte Dr. Berwaldt. »Ich kann nicht mehr –«
    Er spürte, wie die Strickleiter anruckte. Zentimeter um Zentimeter wurde sie emporgezogen. Vier Mann zogen auf dem Dach, stemmten sich an die Dachpappe und hoben Berwaldt empor. Als Taccio seine Hände greifen konnte, zog er Berwaldt vollends auf das Dach und schleifte ihn aus dem Loch. Kraftlos blieb Dr. Berwaldt auf dem glatten Dach sitzen, unfähig, irgend etwas zu tun, zu sagen oder zu helfen. Er sah nur ein Gewimmel von dunklen Gestalten um sich, er sah, wie man einen Sack herbeibrachte, er ließ es geschehen, daß man ihn in diesen Sack steckte, ihn über seiner Brust fest zuband und dann mit einem großen Haken an ein dickes Seil hing. Ehe er weiterdenken konnte, schwebte er bereits langsam zwischen Himmel und Erde und landete unten an der Rückwand des Hauses in den starken Armen von drei Männern, die den Sack auffingen. Ehe er etwas sagen konnte, war er aus dem Sack befreit, wurde auf eine Bahre gelegt und weggetragen. Ein Boot wartete, nahm ihn auf und ruderte mit ihm weg in die schwarze Nacht. Das letzte, was Berwaldt sah, war die Einfahrt in den Canale Grande. Dann verließen ihn die Sinne vor Erschöpfung und nicht mehr eindämmbarer Erregung.
    Er wußte nur eins, und das trug dazu bei, ihn ohnmächtig werden zu lassen: Ich bin befreit! Es wird keine Panik unter den Menschen geben. Man hat die Welt gerettet –
    Cravelli genoß das Konzert wie in einer teuren Loge. Auch ein neuer greller Pfiff ging unter in seiner Glückseligkeit. Das Orchester schwieg ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte. Dafür schlug die einsame Laute wieder an, und die göttliche Stimme begann wieder zu singen.
    Was ihn störte war das Anlassen des Motors, das den Gesang mit häßlichem Knattern unterbrach. Jetzt zieht er weiter, dachte Cravelli traurig. Der Zauber entflieht, und zurück bleibt wieder eine Nacht, in der die Gedanken kreisen: Wie kann man ein Mädchen in seine Gewalt bekommen …
    Cravelli erhob sich, winkte dem Sänger noch einmal zu und wollte zurück in sein Arbeitszimmer gehen. Entsetzt prallte er zurück und umklammerte die steinerne Brüstung des Balkons. Sein Schrei blieb in der Kehle stecken, als würge man ihn ab.
    In der großen Glastür stand eine Gestalt in einem langen, schwarzen Mantel. Ihr Gesicht lag im Schatten. Wie eine riesige Fledermaus wirkte sie, wie ein Todesengel, wie ein Bote aus dem Schattenreich. »Vorbei!« sagte die Gestalt. Cravelli spürte einen eiskalten Hauch über sein Herz wehen.
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