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Die schweigenden Kanäle

Die schweigenden Kanäle

Titel: Die schweigenden Kanäle
Autoren: Heinz G. Konsalik
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schlossen sie den Canale Santa Anna ab, verriegelten mit alten Booten die Seitenkanäle und ruderten als lose Kette an der Ausfahrt nach Chioggia. Auf den kleinen und kleinsten Kanälen in der Umgebung des Canale Santa Anna kreuzten die dunklen Gondeln. In ihnen hockten drei oder vier finstere Burschen, zusammengedrückt, stumm, wartend. Nur das Glimmen ihrer Zigaretten huschte ab und zu über ihre Gesichter.
    Am Palazzo Barbarino lagen die dunklen Gondeln wie eine Wand. Vor dem Palazzo Corner-Revedin glitten sie hin und her, im Rio della Madonetta, im Rio di Agostino, im Rio di Frari, Rio di Megio, am Palazzo Fesaro und an allen Mündungen der Seitenkanäle in den Canale Grande.
    Im Schatten der Kirche San Paolo klirrten Leitern, Ketten und Haken. Männer mit dicken Seilen um die Schultern und leichten Schuhen an den Füßen lehnten sich an die Kirchenmauer und blickten auf das schwarze, leicht ansteigende, gegen den Nachthimmel sich scharf abzeichnende Dach des Palazzo Barbarino.
    Sie sprachen kein Wort. Eine fast friedliche Stille lag über den Gassen. Von weitem hörte man das Knattern einiger Motorboote. Die Polizei vollzog ihre Nachtübung auf dem Canale Grande.
    Man rauchte und starrte auf den Palazzo.
    Man wartete auf das Zeichen.
    Wenig später rauschte durch den Canale Grande ein pfeilschnelles, weißes Motorboot, klein und wendig, mit einem hell knatternden Motor. Ein junger Bursche lenkte es, an dem Gestänge des offenen Verdecks lehnte ein größerer Mann in einem weiten schwarzen Mantel. Sein schwarzes Lockenhaar flatterte im Fahrtwind über sein braunes Gesicht. Er hielt eine Laute in den Händen und starrte vor sich in die von dem Kiel aufgewühlten Wellen.
    Im Canale Santa Anna drosselte der Fahrer den Motor. Fast lautlos glitt das Boot vorbei an den verfallenen Fassaden der alten Paläste. Kurz vor dem Palazzo Barbarino setzte der Motor plötzlich völlig aus. Von einem Ruder getrieben, schaukelte das Boot der Marmortreppe entgegen, dem Balkon zu, der über dem Canale liegt. Dort blieb es liegen, und der Mann am Verdeck griff in die Saiten der Laute.
    Die hohe Fassade des Palazzo Barbarino war schwarz und lichtlos. Um so mehr fiel das schwache Licht auf, das aus dem Arbeitszimmer schimmerte. Cravelli saß noch immer auf dem Balkon. Aber seine Ruhe war verflogen. Er arbeitete an einem Plan, wie er Ilse Wagner wieder zu sich locken konnte. Das schien ihm die beste Möglichkeit zu sein, an die Formeln zu kommen. Es gab Mittel genug, ein Mädchen gefügig zu machen. Alles andere war eine Alternative, vor der Cravelli zurückschreckte.
    In diese Gedanken hinein tönte plötzlich vom Canale herauf eine Stimme. Erst war es nur der schwebende Akkord einer Laute, den Cravelli mit halbem Ohr wahrnahm. Aber dann griffen geübte Finger in die Saiten, eine Melodie quoll auf, und ehe er sich verwundert vorbeugen konnte, begann diese Stimme zu singen.
    Es war ein Tenor von seltener Reinheit und Weichheit. Er sang eine Romanze, die Cravelli nicht kannte … einen süßen, das Herz weitenden Gesang.
    Cravelli beugte sich weit vor. Unten, in der Schwärze des Wassers, schaukelte ein Boot. Ein Mann stand darin, schemenhaft in seinem weiten Mantel, und er sang mit einer Schönheit, die Cravelli unwillkürlich an eine Stimme erinnerte, die er in der Königlichen Oper Rom gehört hatte, in Aida von Verdi. Gino Partile hieß damals der Sänger, und Cravelli hatte auf dem schwarzen Markt eine Riesensumme für die Eintrittskarte bezahlt, nur um ihn zu hören. Diese Stimme dort unten auf dem schmutzigen Canale war gleichwertig, ja, sie war voller, männlicher und klarer.
    Begeistert warf Cravelli die Decke ab, stand auf und lehnte sich über das Geländer des Balkons. Eine göttliche Stimme, dachte Cravelli. Wer kann so singen? Und warum singt er hier? Nirgendwo wohnt hier ein Mädchen, dem man ein solches Ständchen bringen könnte. Vielleicht war es ein Irrtum, an dem er jetzt profitierte. Als die Stimme schwieg, applaudierte er laut. Der unbekannte Sänger verneigte sich leicht, griff wieder in die Saiten und sang eine neue Romanze.
    Cravelli winkte und setzte sich wieder. Ein französisches Lied, dachte er. Und er singt es in französischer Sprache. Wirklich, das ist Venedig! Ein herrlicher Sänger singt in der Nacht in einem dunklen Canale seine Liebeslieder. Warum, für wen … das ist ein Geheimnis, wie so manches Herrliche in Venedig ein Geheimnis ist, ein Zauber, den man genießen muß, ohne zu fragen.
    Cravelli
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