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Die schweigenden Kanäle

Die schweigenden Kanäle

Titel: Die schweigenden Kanäle
Autoren: Heinz G. Konsalik
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undenkbar, daß er jemals so singen konnte … aber er war Sänger! Aber warum sollte er keine schöne Stimme haben? Er hatte Cramer nie singen hören … sie hatten sich nur immer gegenübergestanden und sich mit Hohn und Anklagen beworfen.
    Erschrocken von dem Gedanken, jetzt die Wahrheit zu kennen, drehte er sich herum. Nicht weit hinter ihm hüpfte ein anderes Motorboot, das sich in rasender Fahrt ihm näherte. Cravellis eigener, donnernder Motor schluckte das Geräusch des Verfolgers. Cravelli brauchte nicht mehr zu fragen, wer in diesem Boot saß. Sein Vogelgesicht wurde lang und fahl. Er krallte die Finger in das Steuerrad, trat den Gashebel ganz herunter und lenkte das sich fast aus dem Wasser hebende Boot in die Mitte des Kanals, um mit gleicher Fahrt, ohne abzubremsen, in den Canale Grande rasen zu können.
    Es ging um sein Leben, dessen war er jetzt sicher. Um dieses dreckige, verfluchte und weggeworfene Leben, dem er jetzt entfliehen wollte in ein anderes, noch unbekanntes Leben, irgendwo in einem Winkel der Erde, wo man ihn wieder als reichen Ehrenmann betrachten würden.
    In dem anderen Boot hockte Cramer hinter dem Fahrer und starrte dem vor ihm tanzenden Boot nach. In allen Fugen zitterte der Kahn, laut knallte der Motor, wenn der Fahrer mit dem Fuß auf das Gaspedal hieb. Fast senkrecht stand der Kiel aus dem Wasser … das Boot schien zu fliegen und nur mit der rasend wirbelnden Schraube im Wasser zu liegen.
    »Er entkommt!« schrie Cramer durch das Donnern und Knattern der Motoren. »Er hat das stärkere Boot … er entkommt! Fahr schneller, Kerl! Schneller!«
    »Es geht nicht, Signore!« schrie der Fahrer zurück.
    »Er ist ein Mörder!« brüllte Cramer.
    »Deswegen läuft der Motor nicht schneller!«
    »Wir müssen ihn einholen! Und wenn wir hochfliegen!«
    »Da sind wir nahe davor!« Der Fahrer sah auf den Umdrehungszahlmesser. Der Zeiger pendelte zitternd über die rote Warnlinie. »Noch mehr, und es knallt …«
    Cravellis Boot hatte wirklich den stärkeren und besseren Motor. Es schoß wie ein Torpedo durch das Wasser und zerteilte den Kanal. In einer Gischtwolke zog es dahin, dem großen Canale entgegen.
    »Die Kreuzung«, brüllte Cramer. »Wenn er zur Kreuzung fährt und nicht abbiegt, haben wir ihn! Die Kreuzung ist abgesperrt!«
    Vor ihnen weitete sich der Kanal. Aber er war nicht mehr, wie im hinteren Teil, unbelebt, sondern auf seinem Wasser schaukelten Gondel an Gondel, Licht an Licht, Kiel an Kiel.
    »Jetzt muß er halten!« sagte der Fahrer. Er drosselte den Motor etwas, glücklich, die Kraftprobe zwischen Motor und Willen abbrechen zu können.
    »Oder auch nicht!« schrie Cramer. »Sieh nur … er hält nicht an! Er stellt sogar den Kompressor an … Er will durchbrechen.«
    »Er ist verrückt!« stammelte der Fahrer. »Er ist total verrückt, Signore! Das kann er doch nicht tun –«
    Cravelli raste der Kreuzung entgegen. Noch zwei Kanäle, dachte er voll Freude. Nur noch eine Biegung, die Kreuzung, und dann Freiheit! Freiheit! Auf dem Canale Grande bin ich sicher …
    Durchhalten, Sergio … alter, guter Sergio … durchhalten … In Panama liegen 2 Millionen auf der Bank … allein das genügt, um bis zum Ende aller Tage glücklich zu sein …
    Mit dem Handrücken wischte er sich die Gischtspritzer aus den Augen und klammerte sich dann wieder an das Steuerrad. Ab und zu warf er einen Blick zurück auf das tanzende Verfolgerboot und maß mit heißer Freude den immer länger werdenden Zwischenraum.
    Der sanfte Bogen … die breite Kreuzung … Cravelli zischte in sie hinein. Im gleichen Augenblick schrie er auf.
    Der Kanal war verstopft. Aus dem Rio di San Agostino, aus dem Rio di San Paolo, aus dem Rio di Frari quollen die Gondeln. Am Palazzo Corner-Revedin stauten sie sich, bildeten eine Mauer.
    Gondeln, lauter Gondeln.
    Eine lebende Mauer mit blinkenden, schaukelnden Lichtern tauchte vor ihm auf.
    Cravelli kannte keine andere Wahl … es blieb ihm keine Zeit mehr, zu denken. Instinktiv trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch und riß den Kompressorhebel herum, der dem Motor die letzte Kraft freigab. Krachend, betäubend, mit einem grellen Geheul sprang das Boot aus dem Wasser und schoß mit wahnwitziger Geschwindigkeit auf die Mauer der Gondeln zu.
    Starr sah Cravelli in das tobende Wasser um sich. Kalter, klebriger Schweiß tropfte an ihm herab. Er sah die Gondeln auf sich zufliegen, er hörte Menschen schreien, er sah fuchtelnde Arme in den Booten, aufragende Kiele mit
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