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Die Schuld einer Mutter

Die Schuld einer Mutter

Titel: Die Schuld einer Mutter
Autoren: Paula Daly
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mich nicht falsch, ich bin immer noch wütend. Seit letzter Woche trage ich diese glühend heiße Wut in meiner Magengegend mit mir herum, ich könnte platzen vor Zorn. Aber gleichzeitig bin ich ihretwegen so unendlich traurig.
    Die Tatsache, dass sie so weit gegangen ist, um ihre Familie zu retten, und am Ende doch alles verloren hat, bricht mir das Herz. Nun hat sie nichts und niemanden mehr.
    Ich drehe mich zum Auto um. Mein ganzes Leben befindet sich darin. Ich kann mir nicht ansatzweise vorstellen, wie es wäre, das zu verlieren.
    Ich öffne die Ladentür und reihe mich in die Warteschlange ein, die sich einmal an der Rückwand des Ladens entlangzieht. Ich lasse den Blick über die Wartenden schweifen, und auf einmal entdecke ich Alexa. Sie ist als Nächste dran. Sie steht mit dem Rücken zu mir, aber ich habe sie wiedererkannt.
    Ich schließe die Augen und lehne mich an die kühlen Wandkacheln. Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, mich vor ihr zu verstecken, aber wozu wäre das gut? Wir leben in einer Kleinstadt. Früher oder später werde ich ihr über den Weg laufen.
    Heute hilft der Sohn des Metzgers aus. Er ist erst fünfzehn, ein stiller Junge. Er lässt sich den Namen des Kunden sagen und läuft dann nach hinten ins Kühlhaus, um die bestellte Ware zu holen.
    Gerade reicht er einer älteren Dame das in Wachspapier eingeschlagene Fleisch, und sie drückt ihm zum Dank eine Flasche Johnnie Walker Black Label in die Hand. »Für deinen Vater«, sagt sie, und schüchtern nimmt der Junge die Flasche entgegen und bedankt sich höflich.
    Alexa tritt vor und räuspert sich. »Mrs Willard«, verkündet sie. »Ich habe eine große Pute aus Freilandhaltung bestellt.«
    Der Junge erbleicht und schlägt die Augen nieder. Nach einer gefühlten Ewigkeit stammelt er: »Es tut mir leid, aber wir haben keine Pute für Sie, Mrs Willard.«
    »Was soll das heißen?«, lacht sie. »Ich habe schon im November bestellt. Natürlich haben Sie sie.«
    Er schüttelt den Kopf. »Ich soll Ihnen sagen, wir haben keine.«
    Er fühlt sich sichtlich unwohl. Er tritt von einem Bein aufs andere. Im Laden wird es totenstill, und alle Blicke ruhen auf ihm. Ich richte mich auf. Fast kann ich Alexas Wut bis hier hinten spüren.
    »Geh und hol deinen Vater!«, keift sie. »Das lasse ich mir nicht bieten.«
    Er nickt, schluckt und verschwindet. Sekunden später erscheint seine Mutter Kath hinter dem Verkaufstresen. Sie ist eine vollbusige Frauen mit drallen Armen, blutverschmierter Schürze und einem gesunden Menschenverstand. In der Schule war sie eine Klasse über mir. Wir waren zusammen in der Hockeymannschaft. Ich als Rechtsaußen, sie als Torhüterin.
    »Mrs Willard«, sagt sie emotionslos.
    »Was ist hier los?«, fragt Alexa empört. »Ihr Sohn sagt, Sie hätten meine Bestellung vergessen.«
    »Nein, nicht vergessen. Storniert.«
    »Storniert? Warum? Ich habe nichts storniert.«
    »Nein, aber ich.«
    Ich trete einen kleinen Schritt zur Seite, um Alexas Gesicht im Spiegel hinter dem Verkaufstresen sehen zu können.
    Ihr Mund steht offen. »Ich verstehe nicht«, sagt sie.
    »Da gibt es nichts zu verstehen. Ich habe die Bestellung storniert.«
    »Warum?«
    »Ich werde es Ihnen erklären«, sagt die Metzgersfrau nüchtern, »aber ehrlich gesagt finde ich es ganz schön unverfroren von Ihnen, hier zu erscheinen. Sich hier zu zeigen nach allem, was Sie und Ihre durchgeknallte Schwester unserer Stadt zugemutet haben. Unsere Ehemänner haben ihr Leben riskiert, um da draußen in Schnee und Eis nach dem Mädchen zu suchen. Wir Ladenbetreiber haben Kunden verloren Ihretwegen – kein Mensch wollte zum Einkaufen noch herkommen –, dabei kämpfen wir ohnehin schon ums Überleben. Ich an Ihrer Stelle würde gut über einen Umzug nachdenken. Kein Mensch hier hat noch Lust, sich mit Ihnen abzugeben …«
    »Aber ich habe nichts damit zu tun«, sagt Alexa. »Ich kann doch nichts für das, was meine Schwester tut, ich wusste doch nicht …«
    »Angeblich wussten Sie es sehr wohl.«
    »Nein«, sagt Alexa schwach, »ehrlich, ich wusste nichts.«
    Hilflos sieht sie sich im Geschäft um in der Hoffnung, jemand möge einschreiten und ihr helfen, aber alle wenden die Augen ab.
    Die Metzgersfrau wischt sich die Hände an dem Handtuch ab, das am Gürtel ihrer Schürze hängt. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden«, sagt sie, »aber ich muss nun weitermachen. Wir haben heute noch viel zu tun.« Und dann bleibt sie reglos stehen, wo sie ist.
    Alexa
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