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0949 - Die geronnene Zeit

0949 - Die geronnene Zeit

Titel: 0949 - Die geronnene Zeit
Autoren: Oliver Fröhlich
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Lemuria - vierzehn Jahre nach der Reinigung
    Kesriel hängte das Stofftuch an den Haken und strebte zur Tür, doch die Stimme seiner Mutter bremste ihn. »Du bist noch nicht fertig mit dem Geschirr, junger Mann!«
    Der Erbfolger seufzte, drehte sich um und sah Elada an. Auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln, das so gar nicht zu der Strenge ihrer Worte passen wollte.
    »Doch, bin ich.« Er deutete zu der Platte, auf die sie vor wenigen Minuten den feuchten Abwasch gestellt hatte.
    »Du hast die Krüge noch nicht abge…« Sie stockte, als sie in die Richtung sah, in die ihr Sohn wies. Das Geschirr war trocken! »Wann… wie hast du das gemacht?«
    Sein Grinsen wirkte wie eine Miene der Verunsicherung. »Ich weiß auch nicht genau. Ich habe mir einfach gewünscht, dass sie von selbst trocknen würden. Und plötzlich kam über der Platte ein warmer Wind auf, der die Feuchtigkeit weggeblasen hat.«
    Elada nickte. »Deine Erbfolger-Magie erwacht. Und sie wird Tag für Tag stärker.«
    »Und wenn ich das gar nicht will?«
    »Ich glaube nicht, dass dir eine Wahl bleibt.«
    Er sah aus dem Küchenfenster und blickte über Celuru. Sie bewohnten ein kleines Häuschen auf einer Anhöhe außerhalb der Stadt. Der Bund der Sha'ktanar hatte es für sie gebaut - an der Stelle, an der Merlin und Atrigor gegen eine Dämonenschar gekämpft hatten, um den Seelenhort - einen blau strahlenden Kristall - zu schützen. Mit diesem und sechs weiteren Kristallen war es dem Magier gelungen, die Erbfolge zu reinigen. Leider hatten sie nur einen der Horte retten können, die restlichen hatten widerliche Gosh-Dämonen gestohlen.
    Kesriel lachte auf.
    Erbfolge. Gosh. Merlin. Sha'ktanar.
    All das waren Begriffe, die keinerlei Bedeutung für ihn besaßen. Natürlich wusste er um seine Vergangenheit und um seine besondere… Gabe. Seine Mutter und verschiedene Lemurer hatten ihm oft genug davon berichtet. Dennoch blieb es für ihn genau das: eine schauderhafte Geschichte aus alten Tagen, die man sich abends erzählte. Oder mit der man kleinen Kindern Angst einjagte. Wenn du nicht sofort schläfst, holt dich der Erbfolger.
    Ihm fehlte jede Erinnerung daran. Auch wenn seine Seele angeblich seit Jahrtausenden nach dem Tod auf seinen im gleichen Augenblick geborenen Sohn überging - für Kesriel hatte das Leben erst vor vierzehn Jahren begonnen. Offenbar hatte ihn mit der dunklen Seite zugleich auch das Gedächtnis verlassen.
    Die Wärme eines schönen Sommertags schlug dem Jungen ins Gesicht. Nur einige bauschige Wolken zogen am Himmel träge ihre Bahnen. Selbst von hier oben konnte man sehen, dass in Celuru die Emsigkeit einer Knarrkäferkolonie herrschte. An allen Ecken und Enden arbeiteten die Lemurer daran, die Spuren von Jahrtausenden der Schreckensherrschaft zu beseitigen. Dort, wo noch vor vierzehn Jahren der Erbfolger-Palast gestanden hatte - wo Elada ihren Sohn Kesriel zur Welt gebracht hatte -, erhob sich nun das neue Ratsgebäude. Ein schmuckloser Bau, den man mit Bedacht im krassen Gegensatz zu der dämonisch obszönen Architektur des Tyrannen errichtet hatte. Zwei strahlend weiße Viertelkugeln, die sich mit den gewölbten Seiten gegenüberstanden und die ein Glastunnel miteinander verband.
    Auch Religionen waren nach der Reinigung aus dem Boden geschossen. Vielfältiger in ihrer Ausprägung als die Farben der Serdalienblüten. Das Modell eines gütigen Gottes existierte friedfertig neben den Vorstellungen eines Götterrates, einer Götterfamilie und einer außerirdischen Schöpferrasse.
    Aus der Ferne wirkte Celuru wie ein Flickenteppich. Während in manchen Vierteln hochgezogene Spindelbauten, kugelförmige Wohngebäude und Luftstraßen vorherrschten, lagen andere noch in Schutt und Asche. Aber auch die würden sich in wenigen Jahren in ein neues, modernes Lemuria verwandelt haben.
    »Ich habe Angst«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
    »Angst? Wovor?«
    »Vor der Zukunft.« Er stockte. Deutlich leiser fuhr er fort: »Vor mir selbst. Vor dem Leben.«
    Nun wandte er sich doch seiner Mutter zu. Ein feuchter Schimmer glänzte in seinen Augen.
    »Die Bevölkerung misstraut mir. Wenn die Leute mich ansehen, pendelt der Ausdruck ihrer Blicke zwischen Wut, Hass, Verunsicherung und Furcht. Die meisten biegen hektisch in Seitenstraßen ab oder verschwinden in irgendwelchen Geschäften, wenn ich des Wegs komme. Manche spucken vor mir aus. Wieder anderen kann man den Wunsch in ihren Mienen ablesen, sich auf mich zu stürzen und auf mich einzuprügeln.
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