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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. Ich sah, wie seine Hände abwechselnd die Tischkante umklammerten oder sich zu Fäusten ballten. Am Ende des Berichts schob er seinen Fes zurück und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Er war äußerst betroffen, doch er versuchte, den Schock, so gut es ging, zu verarbeiten.
    »Du hättest mich bitten können, dir Geld vorzustrecken, statt unsere Ländereien zu verpfänden, Issa. Du weißt doch genau, dass damit nur eine Galgenfrist gewonnen ist. Viele der Unsrigen haben schon angebissen, und du hast ja erlebt, wie die Geschichte für sie ausgegangen ist. Wie konntest du dir nur so das Fell über die Ohren ziehen lassen?«
    In seiner Stimme lag kein Vorwurf, nur eine gewaltige Enttäuschung.
    »Was geschehen ist, ist geschehen«, erwiderte mein Vater, dem die Argumente ausgegangen waren. »Gott hat es so gewollt.«
    »Er hat doch nicht die Verwüstung deiner Felder befohlen … Gott hat nichts mit der Bosheit der Menschen zu tun. Und der Teufel auch nicht.«
    MeinVater hob die Hand, um die Diskussion zu beenden.
    »Ich bin gekommen, um mich in der Stadt niederzulassen«, erklärte er. »Meine Frau und die Tochter warten an der nächsten Ecke auf mich.«
    »Ihr kommt erst einmal zu uns. Da könnt ihr euch ein paar Tage ausruhen, so lange, bis ich mir überlegt habe, was ich tun kann …«
    »Nein«, schnitt mein Vater ihm das Wort ab. »Wer wieder hochkommen will, muss sofort damit beginnen. Ich brauche ein eigenes Dach über dem Kopf, noch heute.«
    Mein Onkel, der den Sturkopf seines jüngeren Bruders nur allzu gut kannte, versuchte erst gar nicht, ihn umzustimmen. Er brachte uns auf die andere Seite der Stadt …
    Es gibt wohl nichts Brutaleres als diese jähen Gesichtswechsel einer Stadt. Es genügt, einen Häuserblock zu umrunden, schon gelangt man vom Tag in die Nacht, vom Leben in den Tod. Noch heute schaudert es mich jedes Mal beim Gedanken an diese grausige Erfahrung.
    Die »Vorstadt«, in der wir landeten, machte jäh all den Liebreiz zunichte, der mich wenige Stunden zuvor so bezaubert hatte. Wir befanden uns zwar noch immer in Oran, nun aber auf der Kehrseite des schönen Scheins. Die prächtigen Anwesen und blühenden Straßenzüge waren einem grenzenlosen Chaos gewichen, das aus Elendshütten und dreckigen Kneipen, winddurchlässigen Nomadenzelten und Viehverschlägen bestand.
    »Hier sind wir in Djenane Djato«, sagte mein Onkel. »Heute ist Markttag. Normalerweise geht es hier ruhiger zu«, ergänzte er schnell, um uns zu beruhigen.
    Djenane Djato: ein einziges Durcheinander von Bretterbuden und Gestrüpp, in dem es vor quietschenden Karren, Bettlern und Marktschreiern, Eselstreibern im Zweikampf mit ihren Vierbeinern, Wasserträgern, Scharlatanen und zerlumpten Kleinkindern nur so wuselte. Eine ockerfarbene, glühende Brache, staubbedeckt und von übelsten Ausdünstungen durchzogen, auf die Stadtmauern aufgepfropft wie ein bösartiges Geschwür.Die Misere war grenzenlos an dieser schier unbeschreiblichen Örtlichkeit. Und die Menschen, wandelnde Tragödien, verschmolzen nachgerade mit dem eigenen Schatten – Verdammte, mit denen man kurzen Prozess gemacht und die man, weil die Hölle schon überlaufen war, in diesem Jammertal ausgesetzt hatte. Und die, wenn man sie so sah, Not und Pein der ganzen Welt verkörperten.
    Mein Onkel stellte uns ein verkrüppeltes Männchen mit flackerndem Blick und gedrungenem Nacken vor. Er war Makler, genannt Bliss, eine Art Aasgeier, der jedem Unglück auflauerte, aus dem sich Profit schlagen ließ. Zu jener Zeit waren Raubgeier seiner Art Legion. Infolge der Landflucht, die sich wie ein reißender Strom in die Städte ergoss, konnte man ihnen ebenso wenig entkommen wie einem bösen Fluch. Der unsere war keine Ausnahme von der Regel. Er wusste, wir hatten Schiffbruch erlitten und waren ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ich erinnere mich, er trug einen Zwergenbart, der sein Kinn unverhältnismäßig lang und spitz erscheinen ließ, und eine schmierige Scheschia auf einem kahlen, eingedellten Schädel. Mit seinem Reptilienlächeln und seiner Art, sich die Hände zu reiben, als wollte er uns gleich roh zum Frühstück verspeisen, missfiel er mir auf den ersten Blick.
    Er nickte meinem Vater kurz zu, während er meinem Onkel zuhörte, der ihm unsere Lage erklärte.
    »Ich glaube, ich hätte da etwas für Ihren Bruder, Doktor«, meinte der Makler schließlich, der meinen Onkel gut zu kennen schien. »Für den
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