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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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Gemüsegärten im Staub verreckten und die Viehverschläge heiterer wirkten als unsere Elendshütten.
    Ich war auf einem anderen Stern.
    Ich stolperte hinter meinem Vater her, wie betäubt vom Anblick dieses ganzen Grüns, das von Natursteinmäuerchen und schmiedeeisernem Gitterwerk eingefasst war, von den breiten und sonnenbeschienenen Boulevards, den hoheitsvoll aufragenden Straßenlaternen, die steif wie die Schildwachen dastanden. Und dann erst die Automobile! Ich hatte rund ein Dutzend gezählt. Knatternd tauchten sie aus dem Nichts auf, sternschnuppengleich, und waren schneller um die nächste Ecke verschwunden, als ich mir etwas hätte wünschen können.
    »Wo sind wir hier?«, fragte ich meinen Vater.
    »Halt den Mund und lauf weiter«, gab er zurück. »Und schau nach unten, damit du nicht in ein Loch fällst.«
    Wir waren in Oran.
    Mein Vater lief stur geradeaus, er wusste genau, wo er den Fuß hinsetzte, nicht die Spur eingeschüchtert von den schnurgeraden Straßen mit all den schwindelerregenden Gebäuden, die sich ins Unendliche verzweigten und einander dabei so ähnlich waren, dass man den Eindruck hatte, auf der Stelle zu treten. Und was besonders seltsam war: Die Frauen waren unverschleiert. Sie gingen mit bloßem Gesicht spazieren, die älteren mit seltsamen Frisuraufbauten, die jüngeren halbnackt, mit flatternden Haaren, und die Gegenwart der Männer schien sie nicht im Geringsten in Verlegenheit zu bringen.
    Etwas weiter hinten legte sich der Trubel. Wir kamen in ruhigere, schattige Ecken, in denen eine tiefe Stille herrschte, nur ab und zu von einer vorüberfahrenden Kalesche unterbrochen oder vom Geräusch eines Eisenrollos, das gerade heruntergelassen wurde. Einige europäische Greise saßen mit krebsroten Gesichterngeruhsam vor ihren Haustüren. Sie trugen kurze weite Hosen und offene Hemden, die den Blick auf ihre Schmerbäuche freigaben, dazu breitkrempige, in den Nacken geschobene Hüte. Sie plauderten, von der Hitze erschöpft, vor sich am Boden ein Glas Anisette, und fächelten sich mechanisch Kühlung zu. Mein Vater lief blick- und grußlos an ihnen vorbei. Er versuchte sie zu ignorieren, doch sein Schritt federte merklich weniger als zuvor.
    Wir kamen auf einen Boulevard voller Müßiggänger, die einen Schaufensterbummel machten. Mein Vater ließ erst die Trambahn vorbei, bevor er die Straße überquerte. Er zeigte meiner Mutter, wo sie auf uns warten sollte, vertraute ihr unsere sämtlichen Bündel an und befahl mir, ihm zu einer Apotheke am Ende der Allee zu folgen. Er warf einen Blick durch das Ladenfenster, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht in der Anschrift irrte, dann rückte er seinen Turban zurecht, strich seine Weste glatt und trat ein. Ein hochgewachsener, schlanker Mann stand hinter dem Tresen und notierte etwas in ein Register, er trug einen Anzug mit Weste und einen roten Fes auf seinem blonden Haar. Seine Augen waren blau, sein Gesicht war von feinem Schnitt, und ein dünner Schnurrbart säumte den schmalen Schlitz seines Mundes. Als er meinen Vater eintreten sah, runzelte er kurz die Stirn, dann klappte er seitlich ein Brett hoch und kam hinter dem Tresen hervor, um uns zu begrüßen.
    Die beiden Männer fielen sich in die Arme.
    Die Umarmung war kurz, aber innig.
    »Ist das mein Neffe?«, erkundigte sich der Unbekannte und kam auf mich zu.
    »Ja«, sagte mein Vater.
    »Gott, wie schön er ist.«
    Es war mein Onkel. Bis dahin wusste ich nicht einmal, dass ich einen hatte. Mein Vater hatte uns nie von seiner Familie erzählt. Noch von sonst jemandem. Es war schon viel, wenn er überhaupt das Wort an uns richtete.
    MeinOnkel kauerte sich vor mich hin, um mich an sich zu drücken.
    »Da hast du ja einen Prachtkerl von jungem Mann, Issa.«
    Mein Vater wollte dem lieber nichts hinzufügen. An der Art, wie er die Lippen bewegte, erkannte ich, dass er lautlos Koranverse rezitierte, um den bösen Blick abzuwenden.
    Der Mann erhob sich wieder und musterte schweigend meinen Vater. Nach einer Weile kehrte er hinter seinen Tresen zurück, ohne den Blick von meinem Vater zu nehmen.
    »Es ist nicht leicht, dich deinem Erdloch zu entreißen, Issa. Ich nehme an, es ist etwas Schlimmes passiert. Seit Jahren hast du deinen älteren Bruder nicht mehr besucht.«
    Mein Vater strich nicht lange um den heißen Brei herum. Er erzählte in einem Zug, was zu Hause passiert war, die Ernte, die sich in Rauch aufgelöst hatte, der Blitzbesuch des Kaid … Mein Onkel hörte aufmerksam zu,
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