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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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hat?«
    Wir fallen einander um den Hals. Angezogen von einem gewaltigen Magneten. Zwei Flüssen gleich, die von den Endpolen der Welt heranbrausen, in ihren Fluten alle erdenklichen Emotionen mitführen, und die, nachdem sie durch Berg und Tal gerauscht sind, inmitten brodelnder Gischt in einem Flussbett zusammenströmen. Ich höre den Zusammenprall unserer alten Leiber, das Knistern der Kleidung, das sich mit dem unserer Haut vermischt. Die Zeit steht still. Wir sind allein auf der Welt. Und halten uns fest, so fest, wie wir früher unsere Träume festhielten, um sie ja nicht entweichen zu lassen. Unsere alten, verschlissenen Knochen stützen sich gegenseitig, während wir vom Gefühlsansturm erschüttert werden. Wir sind nur mehr zwei blanke Fasern, zwei bloße Stromkabel, die jeden Moment einen Kurzschluss riskieren, zwei in die Jahre gekommene Kinder, die mit einem Mal sich selbst überlassen sind und vor fremden Leuten rückhaltlos schluchzen.
    Monsieur Mahieddine Younes wird gebeten, sich unverzüglich zu Gate 14 zu begeben. Lärmend bricht die Lautsprecherstimme in unsere Zweisamkeit ein.
    »Wo hast du nur gesteckt?«, frage ich und stoße ihn leicht zurück, um ihn besser betrachten zu können.
    »Jetzt bin ich da. Nur das zählt.«
    »Da hast du recht.«
    Und wieder fallen wir uns in die Arme.
    »Ich bin so froh.«
    »Ich auch, Jonas.«
    »Warst du gestern und vorgestern in der Nähe?«
    »Nein, ich war in Nizza, Jonas. Fabrice hat mich angerufen und fertiggemacht, und nach ihm noch Dédé. Ich habe beiden gesagt, dass ich nicht käme. Und heute Morgen hat Isabelle mich quasi aus dem Haus geworfen. Um fünf Uhr morgens. Ich bin wie ein Besessener gefahren. In meinem Alter.«
    »Wie geht es ihr?«
    »Genauso, wie du sie gekannt hast. Unverbesserlich und nicht totzukriegen … Und du?«
    »Ich kann nicht klagen.«
    »Du siehst gut aus … Hast du Dédé gesehen? Er ist sehr krank, weißt du? Er hat die Reise nur wegen dir auf sich genommen … Wie war euer Treffen?«
    »Wir haben Tränen gelacht, und wir haben geweint.«
    »Kann ich mir denken.«
    Monsieur Mahieddine Younes wird gebeten, sich unverzüglich zu Gate 14 zu begeben.
    »Und Río? Wie läuft es in Río?«
    »Kommdoch und finde es selbst heraus.«
    »Hat man mir verziehen?«
    »Und du, hast du denn verziehen?«
    »Ich bin zu alt, Jonas. Ich habe keine Kraft mehr für Ressentiments. Der winzigste Wutanfall wirft mich um.«
    »Siehst du …? Ich wohne noch immer im Haus an den Weinfeldern. Inzwischen wieder allein. Ich bin seit über zehn Jahren verwitwet, mein Sohn ist in Tamanrasset verheiratet, meine Tochter Professorin an der Concordia University in Montreal. An Platz fehlt es mir nicht. Du kannst dir aussuchen, in welchem Zimmer du schlafen willst; sie sind alle frei. Das Holzpferd, das du mir geschenkt hast, damit ich dir die Abreibung verzeihe, die du mir wegen Isabelle verpasst hast, steht noch da, wo du es zum letzten Mal gesehen hast – auf dem Kamin.«
    Ein Angestellter von Air Algérie kommt ein wenig hilflos auf mich zu:
    »Fliegen Sie nach Oran?«
    »Ja.«
    »Sind Sie Mahieddine Younes?«
    »Ja, der bin ich.«
    »Kommen Sie doch bitte mit, wir warten nur noch auf Sie, um starten zu können.«
    Jean-Christophe zwinkert mir zu:
    » Tabqa ala khir , Jonas. Geh in Frieden.«
    Er umarmt mich. Ich spüre ihn in meinen Armen beben. Unsere Verabschiedung dauert eine Ewigkeit – zum Leidwesen des Angestellten. Jean-Christophe lässt als Erster von mir ab. Mit roten Augen und einem Kloß im Hals sagt er zu mir:
    »Los, hau schon ab.«
    »Ich werde auf dich warten«, antworte ich.
    »Ich werde kommen, versprochen.«
    Er lächelt mir zu.
    Ich beeile mich, meine Verspätung aufzuholen – der AirAlgérie-Mitarbeiter geht voran, um mir den Weg durch die Schlangezu bahnen –, passiere erst den Scanner, dann die Grenzpolizei. Bevor ich die zollfreie Zone betrete, drehe ich mich ein letztes Mal um. Nach dem, was ich hinter mir lasse. Und da stehen sie alle , die Toten und Lebenden, vollständig hinter der Glaswand versammelt, und winken mir zum Abschied zu.

AlleRechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa
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    ISBN 978-3-550-92009- 7
    © 2008 Éditions Julliard, Paris © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Ullstein Buchverlage GmbH , Berlin Alle Rechte vorbehalten Satz und eBook: LVD GmbH , Berlin

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