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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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öffnen. Manches Schweigen sollte man besser nicht stören. Gleich einem still ruhenden See besänftigt es unsere Seele.
    Verzeih mir, wie ich Dir verziehen habe.
    Von dort, wo ich nunmehr bin, bei Simon und meinen lieben Entschlafenen, werde ich immer an Dich denken,
    Émilie. «
    Mir ist, als würden alle Sterne am Himmelszelt zu einem einzigen Stern verschmelzen, als sei die Nacht, die weite Nacht, zu mir ins Zimmer gekommen, um über meinen Schlaf zu wachen. Ich weiß, ich werde fortan, wo auch immer ich bin, in Frieden schlafen.
    Am Marignane-Flughafen herrscht gelassenes Treiben. Kein großes Gedränge, und die Schlangen vor den Schaltern lösen sich zügig auf. Der für Air Algérie reservierte Sektor ist fast menschenleer. Nur einige Kofferträger, hartgesottene Schwarzmarkthändler, aus der Warennot und dem Überlebensinstinkt geboren, sogenannte Trabendisten , feilschen unter Zuhilfenahme sämtlicher Tricks um die Gebühr für ihr Übergepäck, doch die Show, die sie abziehen, beeindruckt den Mann am Schalter nicht. Dahinter warten ein paar ältere Rentner mit vollgeladenem Kofferkuli geduldig, bis sie an der Reihe sind.
    »Haben Sie Gepäck, Monsieur?«, fragt mich die Dame am Schalter.
    »Nur die Tasche hier.«
    »Sie wollen sie als Handgepäck mitnehmen?«
    »Dannmuss ich mir bei der Ankunft nicht die Beine in den Bauch stehen.«
    »Da haben Sie recht«, erwidert sie und gibt mir meinen Pass zurück. »Hier Ihre Bordkarte. Boarding Time 9 Uhr 15 , Gate 14 .«
    Meine Uhr zeigt 8 Uhr 22 an. Ich lade Bruno und Michel zu einer letzten Tasse Kaffee ein. Wir setzen uns. Bruno sucht nach einem interessanten Gesprächsthema, ohne Erfolg. Schweigend trinken wir unseren Kaffee aus, den Blick ins Leere gerichtet. Ich denke an Jean-Christophe Lamy. Gestern war ich kurz davor, Fabrice zu fragen, warum unser Ältester nicht gekommen ist, doch meine Zunge sperrte sich, und ich bekam kein Wort heraus. Von André habe ich erfahren, dass Jean-Christophe bei Émilies Beerdigung war, dass es Isabelle, die ihn begleitet hatte, prächtig ging und dass beide wussten, dass ich nach Aix kommen würde … Ich bin traurig – seinetwegen.
    Der Lautsprecher kündigt an, dass die Passagiere für den Flug AH 1069 nach Oran an Bord gehen können. Das ist mein Flug. Bruno umarmt mich, verharrt eine Weile selbstvergessen an meiner Schulter. Michel küsst mich auf beide Wangen, sagt etwas, das nicht zu mir durchdringt. Ich danke ihm für seine Gastfreundschaft, dann lasse ich die beiden gehen.
    Ich begebe mich nicht zur Abflughalle.
    Ich bestelle einen zweiten Kaffee.
    Ich warte …
    Meine Intuition sagt mir, dass etwas passieren wird, dass ich durchhalten muss und mich nicht von meinem Stuhl rühren darf.
    Letzter Aufruf für die Passagiere des Fluges AH 1069 nach Oran , ruft eine weibliche Lautsprecherstimme. Dies ist der letzte Aufruf für die Passagiere des Fluges AH 1069 .
    Meine Tasse ist leer. Mein Kopf ist leer. Da ist nichts als ein gewaltiges Vakuum. Und diese Intuition, die mir befiehlt, sitzen zu bleiben und abzuwarten. Die Minuten wälzen sich gleichDickhäutern über meine Schultern. Ich habe Rückenschmerzen, Bauchschmerzen, schmerzende Knie. Die Lautsprecherstimme schrillt mir ins Hirn, hallt ungnädig in meinen Schläfen wider. Diesmal gilt der Aufruf mir persönlich:
    Monsieur Mahieddine Younes wird gebeten, sich unverzüglich zu Gate 14 zu begeben. Dies ist der letzte Aufruf …
    Meine Intuition ist auch nicht mehr die Jüngste, sage ich mir. Auf, mein Alter, da ist nichts mehr zu erwarten. Beeil dich, wenn du deinen Flieger nicht verpassen willst. In drei Tagen heiratet dein Enkel.
    Ich nehme meine Tasche und bewege mich in Richtung Abflughalle. Kaum habe ich mich in die Warteschlange eingereiht, ruft eine Stimme aus wer weiß welchen Tiefen nach mir:
    »Jonas!«
    Es ist Jean-Christophe.
    Da steht er, hinter der gelben Linie, im Mantel, mit hängenden Schultern und schlohweißem Haar – so alt wie die Welt.
    »Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben«, bemerke ich, während ich kehrtmache und auf ihn zugehe.
    »Und dabei habe ich alles getan, um nicht zu kommen.«
    »Was beweist, dass du noch immer derselbe Sturkopf bist. Aber das Alter der falschen Eitelkeiten haben wir hinter uns, findest du nicht? Wir sind schon am Rande der Zeit. Und im Herbst des Lebens bleiben einem nicht mehr viele Freuden. Was gibt es Schöneres, als ein Gesicht wiederzusehen, das man vor fünfundvierzig Jahren aus den Augen verloren
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