Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
Vom Netzwerk:
die einen umarmte, die anderen leicht zurückstieße, um sie zu betrachten, wie mir plötzlich die Sprüche und Spitznamen von einst wieder einfielen, eine Anekdote mich jäh in die Kindheit zurückversetzte und all das, was uns jahrelang bei Nacht heimgesucht hatte, plötzlich verstummte und nur das übrigließ, was uns genehm war und unseren Erinnerungen einen pastellenen Anstrich verlieh. Und nun, wo wir alle endlich wieder beisammen sind, auf Tuchfühlung, vom Vergangenen und vom Überleben überwältigt, mit rasendem Puls und feuchtem Blick, lässt ein obskures Unbehagen unseren Elan ins Leere laufen, und wir sind stumm, wie Kinder, die sich zum ersten Mal begegnen und nicht wissen, was sie miteinander reden sollen.
    »Erinnerst du dich nicht an mich, Jonas?«, fragt mich der lange Kerl.
    »Dein Name ist mir entfallen, aber alles andere weiß ich noch. Du hast in der Nummer 6 gewohnt, gleich hinter Madame Lambert. Ich sehe dich noch die Mauer hochklettern, um ihren Obstgarten zu plündern.«
    »Das war kein Garten, nur ein großer Feigenbaum.«
    »Eswar ein Garten. Ich wohne nach wie vor in der Nummer 13 , und ich höre noch heute, wie Madame Lambert über die Lausebengel schimpft, die über ihre Obstbäume herfielen …«
    »Na so was! In meiner Erinnerung gibt es nur einen großen Feigenbaum.«
    »Gustave!«, rufe ich lachend und schnipse mit dem Finger. »Jetzt weiß ich’s wieder. Gustave Cusset, der schlechteste Schüler der Klasse. Ständig am Faxen machen, in der letzten Bank.«
    Gustave lacht laut auf und drückt mich an sich.
    »Und ich?«, fragt der dritte Alte, ohne sich vom Tisch zu erheben. »Kennst du mich noch? Ich habe nie einen Obstgarten geplündert, und in der Schule war ich immer lammfromm.«
    Er hingegen ist wirklich verdammt alt geworden: André J. Sosa, der Angeber von Río, der sein Geld so tanzen ließ wie sein Vater die Peitsche. Er ist unglaublich dick; sein Bauch hängt ihm trotz eines Paars strammer Hosenträger bis auf die Knie. Mit der sommersprossigen Glatze und dem völlig verrunzelten Gesicht lacht er mich breit an und enthüllt dabei sein komplettes Gebiss.
    »Dédé!«
    »Genau, Dédé«, sagt er. »So wenig totzukriegen wie die unsterblichen Knacker von der Académie française.«
    Und er kommt im Rollstuhl auf mich zu.
    »Ich kann schon noch gehen …«, auf diese Feststellung legt er Wert, »… ich bin nur einfach zu schwer geworden.«
    Wir fallen einander um den Hals. Nun fließen die Tränen, und wir lassen sie fließen. Wir weinen, und wir lachen, und wir boxen uns in die Rippen, was das Zeug hält.
    Als der Abend anbricht, sitzen wir unter schallendem Gelächter am Tisch, wenn wir uns nicht gerade die Seele aus dem Leib husten. Krimo, der vor einer Stunde aufgetaucht ist, ist mir nicht mehr böse. Er hat seinen ganzen Groll auf dem Friedhof herausgelassen und sitzt jetzt nach allem, was wir uns an den Kopf geworfen haben, mit schlechtem Gewissen vor mir. Vielleicht hatte er bisher keine Gelegenheit gehabt, sein Herz aus zuschütten?Jedenfalls wirkt er wie jemand, der nach langer Zeit endlich mit sich im Reinen ist. Es hat eine Weile gedauert, bis er mir in die Augen sehen konnte. Dann hat er zugehört, als wir von Río sprachen, von den Winzerbällen, der Weinlese, den heißen Nächten mit flotten Mädels am Ende unserer Gelage, von Pépé Rucillio und seinen heimlichen Ausschweifungen, von den Biwaks im Mondenschein; und kein einziges Mal hat er einen unschönen Vorfall oder eine unangenehme Erinnerung aufs Tapet gebracht.
    Martine, Michels Frau, eine robuste Frohnatur aus Aoulef, halb berberisch, halb bretonisch, hat uns eine sensationelle Bouillabaisse zubereitet. Die Rouille ist köstlich, und der Fisch zergeht auf der Zunge.
    »Trinkst du noch immer nicht?«, fragt mich André.
    »Nicht einen Tropfen.«
    »Du weißt gar nicht, was dir entgeht.«
    »Wenn es nur das wäre, Dédé.«
    Er gießt sich ein Glas voll ein, betrachtet es von allen Seiten und schüttet es in einem Zug hinunter.
    »Stimmt es, dass in Río kein Wein mehr produziert wird?«
    »Ja, stimmt.«
    »Verdammt, was für eine Verschwendung! Ich schwöre dir, ich spür manchmal noch heute den überirdisch guten Abgang dieses Weines am Gaumen, der für unser Río so typisch war, diesen teuflisch süffigen Rosé, diesen Alicante d’El Maleh , der einem Lust machte, sich zu besaufen, bis man zwischen einem Kürbis und dem Arsch seiner Stiefmutter keinen Unterschied mehr sah.«
    »Die Agrarrevolution hat
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher