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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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Ich habe weder Verdienste, die mir gestatten würden, die dei nenanzuerkennen, noch irgendein Bedauern, das mir erlaubte, deinen Schmerz nachzufühlen … Ich bin nur ein Überlebender, der keine Ahnung hat, warum er ohne einen Kratzer davongekommen ist, obwohl er denen, die es erwischt hat, doch nichts voraushatte … Wenn es dich beruhigt, wir sitzen alle im selben Boot. Wir haben unsere Märtyrer verraten, ihr habt eure Vorfahren verraten und wurdet am Ende dann selber verraten.«
    »Ich habe niemanden verraten.«
    »Armer Irrer! Ist dir nicht klar, dass jeder, der den Krieg überlebt, auf die eine oder andere Art ein Verräter ist?«
    Krimo verzieht den Mund und setzt wutentbrannt zur Antwort an, doch Michels Rückkehr lässt ihn innehalten. Nachdem er mich grimmig gemustert hat, gibt er mir den Weg zum Auto frei, das ein Stück weiter unten in der Nähe eines Rummelplatzes steht.
    »Kommst du mit uns, Krimo?«, fragt Michel, während er mir den Wagenschlag aufhält.
    »Nein … Ich nehme ein Taxi.«
    Michel belässt es dabei.
    »Tut mir leid, die Sache mit Krimo«, sagt Michel, während er Gas gibt.
    »Halb so wild. Muss ich da, wo wir jetzt hinfahren, mit demselben Empfang rechnen?«
    »Wir fahren zu mir. Es mag Sie überraschen, aber vor ein paar Stunden brannte Krimo förmlich vor Ungeduld, Sie endlich wiederzusehen. Es wirkte nicht so, als warte er nur darauf, Sie zu verärgern. Er ist gestern aus Spanien eingetroffen. Er hat den ganzen Abend über bestens gelaunt von den Jahren in Río erzählt. Ich weiß gar nicht, was plötzlich in ihn gefahren ist.«
    »Das wird sich schon geben, auch bei mir.«
    »Das wäre wohl am gescheitesten. Meine Mutter sagte immer, vernünftige Leute söhnten sich am Ende zwangsläufig mit einander aus.«
    »Dashat Émilie gesagt?«
    »Ja, warum?«
    Ich antworte nicht.
    »Wie viele Kinder haben Sie, Monsieur Jonas?«
    »Zwei … einen Jungen und ein Mädchen.«
    »Und Enkelkinder?«
    »Fünf … Der Jüngste, den ich nächste Woche verheirate, war vier Jahre hintereinander algerischer Meister im Sporttauchen. Aber mein ganzer Stolz ist Norah, meine Enkeltochter. Ich setze die größten Hoffnungen in sie: Sie ist erst fünfundzwanzig und leitet schon eines der wichtigsten Verlagshäuser unseres Landes.«
    Michel beschleunigt. Wir fahren die Route d’Avignon entlang, bis wir zu einer Ampel kommen, an der Michel einem Wegweiser in Richtung Chemin Brunet folgt. Das ist ein serpentinenreicher Höhenweg über der Stadt, bald von kleinen Mauern, hinter denen sich schöne Anwesen verbergen, gesäumt, bald von gefälligen Etagenhäusern hinter schmiedeeisernen Schiebetoren. Es ist ein ruhiges, helles Viertel mit üppiger Blütenpracht. Kein einziges Kind spielt auf der Straße. Nur ein paar ältere Leute sind zu sehen; geduldig warten sie im Schatten einiger Kletterpflanzen auf ihren Bus.
    Das Haus der Benyamins liegt auf einer Hügelkuppe in einem Wäldchen: eine kleine Villa ganz in Weiß hinter einer mit Efeu bewachsenen Natursteinmauer. Michel drückt auf die Fernbedienung; automatisch öffnet sich das Tor und gibt den Blick auf einen großen Garten frei, weiter hinten sitzen drei Männer an einem Tisch im Freien.
    Ich steige aus. Der Rasen unter meinen Sohlen gibt nach. Zwei der drei Alten stehen auf. Wir blicken uns schweigend an. Den Größeren der beiden kenne ich: ein langer Kerl, mit leicht krummer Haltung und Glatze. Sein Name liegt mir auf der Zunge. Wir standen einander damals in Río nicht sonderlich nahe; wir wohnten in derselben Straße und grüßten uns im Vorübergehen, mehr nicht. Sein Vater war der örtliche Bahnhofs vorsteher.Neben ihm ein eher gut erhaltener Siebziger mit ausgeprägtem Kinn und vorstehender Stirn: Bruno, der junge Dorfsheriff, der so gern über den Rathausplatz stolzierte und dazu seine Trillerpfeife mitsamt Schnur um seine Finger wirbeln ließ. Ich bin überrascht, ihn hier anzutreffen; ich hatte gehört, er sei bei einem Attentat der OAS in Oran ums Leben gekommen. Er kommt auf mich zu, reicht mir die linke Hand; am rechten Arm hat er eine Prothese.
    »Jonas … Wie schön, dich wiederzusehen!«
    »Ich freue mich auch sehr, dich wiederzusehen, Bruno.«
    Der lange Kerl begrüßt mich ebenfalls. Seine Hand liegt schlaff in meiner. Er ist verlegen. Ich vermute, wir sind es alle. Im Auto hatte ich mich auf ein begeistertes Wiedersehen eingestimmt, mit großem Hallo und kräftigem Schulterklopfen unter dröhnendem Lachen. Ich stellte mir vor, wie ich
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