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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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falte die Hände vor dem Mund und rezitiere einen Koranvers. Das entspricht zwar nicht der sunnitischen Sitte, aber ich tue es trotzdem. In den Augen der Imame und Päpste sind wir entweder die einen oder die anderen, doch vor dem Herrn sind wir alle gleich. Ich rezitiere die Fatiha, dann noch zwei Passagen aus der Sure Ya-Sin …
    Danach ziehe ich einen kleinen Baumwollbeutel aus der Innentasche meines Jacketts, lockere die Schnur, greife mit zitternden Fingern hinein und hole mehrere Prisen getrockneter Blütenblätter hervor, die ich über dem Grab ausstreue – Staub einer Blüte, die vor mehr als siebzig Jahren aus einem Blumen topfgebrochen wurde; Reste jener Rose, die ich in Émilies Erdkundebuch versteckt hatte, während Germaine ihr im Hinterzimmer unserer Apotheke in Río Salado eine Spritze gab.
    Ich stecke das leere Beutelchen wieder ein und erhebe mich. Meine Beine zittern, und ich muss mich am Grabstein festhalten, bis ich wieder bei Kräften bin. Diesmal höre ich das Knirschen meiner eigenen Schritte auf dem Kies. Mein Kopf ist voller Gehgeräusche, voller abgerissener Stimmen und aufblitzender Bilder … Émilie, wie sie in der Toreinfahrt unserer Apotheke sitzt, die Mantelkapuze tief ins Gesicht gezogen, und an den Schnürsenkeln ihrer Stiefeletten herumfingert. Ich hätte sie nur zu gern für einen vom Himmel gefallenen Engel gehalten. Émilie, die zerstreut in einem großen Buch blättert. »Was liest du denn da?« – »Ein Bilderbuch über Guadeloupe.« – »Was ist Guadeloupe?« – »Eine große französische Insel in der Karibik.« Émilie am Tag nach ihrer Verlobung, wie sie mich in der Apotheke bekniet. »Sag ja, und ich sage alles ab …« Die Wege vor mir beginnen zu verschwimmen. Ich fühle mich elend. Versuche schneller zu gehen, es gelingt mir nicht. Es ist wie im Traum, die Beine versagen mir den Dienst, wachsen schier am Boden fest …
    Ein alter Mann in Uniform steht am Ausgang des Friedhofs, die Brust gespickt mit Verdienstorden und Kriegsmedaillen. Mit bloßem Haupt und zerknittertem Gesicht steht er da, auf seinen Stock gestützt, und blickt mir entgegen, als ich auf ihn zukomme. Er weicht nicht zur Seite, um mich vorbeizulassen, wartet, bis ich auf seiner Höhe bin, dann legt er los:
    »Die Franzosen sind fort. Die Juden und Zigeuner auch. Ihr seid ganz unter euch. Warum bringt ihr euch jetzt gegenseitig um? Was soll das?«
    Ich verstehe weder worauf er anspielt noch warum er in diesem Ton zu mir spricht. Sein Gesicht sagt mir nichts. Doch seine Augen kommen mir bekannt vor. Plötzlich erhellt ein Blitz mein Gedächtnis … Krimo …! Es ist Krimo, der Harki, der mir in Río den Tod geschworen hatte. Kaum habe ich ihn wie derzugeordnet, fährt mir ein gewaltiger Schmerz in den Kiefer: derselbe Schmerz, der mich zu Boden gestreckt hatte, als er mir seinen Gewehrkolben gegen das Kinn stieß.
    »Weißt du jetzt, wo wir uns begegnet sind? Ich sehe es an deinem Gesichtsausdruck, dass du mich endlich erkennst.«
    Ich schiebe ihn sachte beiseite, um meinen Weg fortzusetzen.
    »Aber so ist es doch. Wozu dieses Gemetzel, diese Attentate ohne Ende? Ihr wolltet eure Unabhängigkeit? Ihr habt sie. Ihr wolltet selbst über euer Schicksal entscheiden? Bitte sehr, das könnt ihr. Warum dann dieser Bürgerkrieg? Warum ist alles von Islamisten verseucht? Warum spielt sich die Armee derart in den Vordergrund? Ist das nicht der Beweis, dass ihr bloß töten und zerstören könnt?«
    »Ich bitte dich … Ich bin gekommen, um mich vor einem Grab zu verbeugen, nicht um in Leichengruben herumzuwühlen.«
    »Wie rührend!«
    »Was willst du von mir, Krimo?«
    »Ich? Nichts … Dich nur ein wenig aus der Nähe besehen. Als Michel uns vorhin angerufen hat, um zu sagen, dass die Stunde des Wiedersehens sich verschiebt, war das für mich, als hätte man das Jüngste Gericht auf später verlegt.«
    »Ich begreife nicht, was du meinst.«
    »Das wundert mich nicht, Younes. Wann hättest du jemals dein Unglück begriffen?«
    »Du langweilst mich, Krimo. Du langweilst mich zu Tode, wenn du es genau wissen willst. Ich bin nicht deinetwegen hier.«
    »Ich schon. Ich bin eigens aus Alicante angereist, um dir zu bestätigen, dass ich nichts vergessen und nichts vergeben habe.«
    »Und deshalb hast du deine alte Uniform mitsamt allen Medaillen aus dem Pappkoffer geholt, der bei dir im Keller vor sich hin modert?«
    »Da hast du ins Schwarze getroffen.«
    »Ich bin nicht der liebe Gott. Und auch nicht die Republik.
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