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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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sämtliche Weinfelder in der Region verwüstet.«
    »Was hat man denn stattdessen gepflanzt?« Gustave regt sich auf. »Etwa Kartoffeln?«
    André schiebt die Flasche zur Seite, die zwischen uns steht:
    »Und Djelloul? Was ist aus ihm geworden? Ich weiß, dass er Hauptmann in der algerischen Armee war und einen Militär sektorin der Sahara befehligt hat. Aber seit ein paar Jahren habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
    »Er ist Anfang der 1990 er Jahre als Oberst in den Ruhestand getreten. Er hat nie in Río gelebt. Er hatte eine Villa in Oran, in der er seinen Lebensabend verbringen wollte. Dann kam uns der Islamistenterror in die Quere, und Djelloul wurde vor seiner Haustür ermordet. Er saß auf der Schwelle und träumte vor sich hin, da hat ihn eine Ladung Schrot erwischt.«
    André fährt auf, schlagartig ernüchtert.
    »Djelloul ist tot?«
    »Ja.«
    »Von einem Terroristen ermordet?«
    »Ja, einem Emir der GIA . Und, halt dich fest, Dédé: Es war sein eigener Neffe!«
    »Djellouls Mörder war sein Neffe?«
    »Du hast richtig verstanden!«
    »Mein Gott! Was für eine traurige Ironie des Schicksals.«
    Fabrice Scamaroni stößt erst spätabends zu uns, wegen eines Eisenbahnerstreiks. Und wieder fallen sich alle um den Hals. Zwischen Fabrice und mir war der Kontakt nie abgebrochen. Da er Auslandskorrespondent geworden war, und ein berühmter Schriftsteller, sah ich ihn regelmäßig im Fernsehen. Er war mehrmals für seine Zeitung nach Algerien zurückgekehrt und hat jede Reportage dazu genutzt, einen Abstecher nach Río Salado zu machen. Er hat immer bei mir gewohnt. Und bei jedem seiner Besuche habe ich ihn frühmorgens, egal, ob es stürmte oder schneite, zum christlichen Friedhof begleitet, wo er das Grab seines Vaters besuchte. Seine Mutter war in den 1970 ern auf einer gekenterten Yacht vor Sardinien ums Leben gekommen.
    Auf dem Tisch häufen sich mittlerweile die leeren Weinflaschen. Wir haben unsere Verstorbenen hochleben lassen, Informationen über unsere Lebenden ausgetauscht, nachgefragt, was aus diesem oder jenem geworden ist, warum der eine sich ins Exil nach Argentinien abgesetzt hat, der andere lieber nach Marokkogegangen ist … André ist inzwischen sternhagelvoll, aber er hält tapfer durch. Bruno und Gustave pendeln ständig zwischen Garten und WC hin und her.
    Und ich beobachte fortwährend das Gartentor.
    Denn einer fehlt noch im Bunde: Jean-Christophe Lamy.
    Ich weiß, dass er lebt, dass er mit Isabelle zusammen ein großes florierendes Unternehmen an der Côte d’Azur geführt hat. Warum ist er nicht da? Nizza ist keine zwei Autostunden von Aix entfernt. André ist aus Bastia gekommen, Bruno aus Perpignan, Krimo aus Spanien, Fabrice aus Paris, Gustave aus dem Département Saône-et-Loire … Ist er mir immer noch böse? Was hatte ich ihm denn schon getan? Mit Abstand betrachtet, überhaupt nichts … Ich habe ihm nicht das Geringste getan. Ich habe ihn wie einen Bruder geliebt, und wie ein Bruder habe ich um ihn geweint an dem Tag, an dem er fortgegangen ist und mit ihm, an den Absätzen seiner Schuhe, dieser Schuhe ohne Schnürsenkel, unsere Epoche …
    »Jonas, komm auf die Erde zurück!«, rüttelt Bruno mich auf.
    »Ja?«
    »Woran denkst du? Ich rede schon seit gut fünf Minuten mit dir.«
    »Entschuldige. Was sagtest du …?«
    »Ich sprach von zu Hause. Ich sagte, dass wir ein heimatloses Leben führen.«
    »Und ich ein Leben ohne Freunde. Ich weiß nicht, wer von uns dabei mehr verloren hat, aber es bedrückt das Herz auf dieselbe Art.«
    »Ich denke nicht, dass du dabei mehr verloren hast als wir, Jonas.«
    »So ist eben das Leben«, philosophiert André. »Was du mit der einen Hand gewinnst, verlierst du mit der anderen. Nur, großer Gott! Warum muss man dabei auch noch die Finger lassen …? Bruno hat recht. Es ist nicht dasselbe. Nein, es ist ganz und gar nicht dasselbe, ob man seine Freunde oder sein Vaterland verliert. Es zerreißt mir bis heute fast das Herz, wennich nur daran denke. Der Beweis: Bei uns heißt es nicht Nostalgie, sondern Nostalgérie , wenn uns mal wieder das Heimweh überwältigt.«
    Er atmet tief durch; seine Augen glänzen im Lampenlicht.
    »Algerien verfolgt mich nachgerade«, bekennt er. »Bald trifft mich sein Giftpfeil, bald umweht mich sein Duft. Ich versuche, es abzuschütteln, aber es gelingt mir nicht. Wie geht das nur mit dem Vergessen? Ich wollte einen Strich unter meine Jugenderinnerungen machen, etwas Neues anfangen, bei null beginnen. Doch
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