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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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schön, und die Terrassencafés sind voll. Junge Leute stehen Schlange vor den Kinosälen. Ein Musiker mit wilder Mähne stimmt seine Geige, er sitzt auf der Esplanade zu ebener Erde, seinen Hund eingerollt neben sich.
    Vor meinem Hotel machen zwei Fußgänger einen rücksichtslosen Autofahrer zur Schnecke. Als Letzterem die Argumente ausgehen, verzieht er sich mit wütendem Türenschlagen wieder hinter sein Steuer.
    Meinebeiden Gefährten begleiten mich bis zur Rezeption und wünschen mir eine gute Nacht, nachdem sie mir versprochen haben, am nächsten Morgen um sieben Uhr zur Stelle zu sein, um mich zum Flughafen zu bringen.
    Ich nehme eine heiße Dusche und schlüpfe ins Bett.
    Auf dem Nachttisch steht nach wie vor Émilies Dose, so unverrückbar wie eine Urne. Meine Hand entfernt automatisch das kleine Vorhängeschloss, wagt sich aber nicht an den Deckel.
    Ich bekomme kein Auge zu. Versuche, an nichts zu denken. Zerwühle die Kopfkissen, wälze mich auf die rechte, auf die linke Seite, dann auf den Rücken. Ich bin unglücklich. Der Schlaf isoliert mich von der Welt, und ich habe keine Lust darauf, allein im Dunkeln zu sein. Ein Tête-à-Tête mit mir selbst verheißt nichts Gutes. Ich muss mich mit Tröstern umgeben, meinen Frust abladen, mir einen Sündenbock suchen. So war das schon immer: Wenn einem der eigene Schmerz sinnlos erscheint, sucht man einen Schuldigen. In meinem Fall ist der Schmerz eher verschwommen. Ich bin traurig und weiß nicht, warum. Ist es wegen Émilie? Jean-Christophe? Des Alters? Des Briefs in der Schachtel, der meiner harrt …? Warum ist Jean-Christophe nicht gekommen? Sollte der Groll hartnäckiger sein als der gesunde Menschenverstand …?
    Durch das offene Fenster, am nachtblauen Himmel, an dem wie ein Medaillon der Mond hängt, werde ich sie alle Revue passieren lassen, die Freuden, die Verfehlungen, die vertrauten Gesichter meines Lebens. In Zeitlupe. Ich höre sie schon heranrollen wie eine Lawine. Welche Auswahl soll ich treffen? Welche Haltung einnehmen? Ich drehe Pirouetten am Abgrund, bin ein Tänzer auf Messers Schneide, ein Vulkanforscher, dem am Rand des brodelnden Kraters die Augen übergehen; ich stehe am Tor zum Gedächtnis: jenem endlosen Stapel von Bändern mit Rohmaterial, wo wir archiviert sind, jenen dunklen Riesenschubladen, in denen die ganz gewöhnlichen Helden, die wir einst waren, lagern, neben den Mythen-Helden eines Albert Camus,deren Rolle wir nicht übernehmen konnten; die bald genialen, bald grotesken, bald schönen, bald monströsen Schauspieler oder Statisten, die wir abwechselnd waren, derweil wir unter unseren Fehltritten und Husarenstücken, unseren Lügen und Bekenntnissen, unseren Treueschwüren und Wortbrüchen, unseren Waghalsigkeiten und Abtrünnigkeiten, unseren Gewissheiten und Unschlüssigkeiten, kurz, unter der ganzen Last unserer unbezähmbaren Illusionen schier zusammenbrachen. Was sollte ich von dieser Fülle an Rohmaterial behalten? Was verwerfen? Wenn es nur einen Augenblick des Lebens gäbe, den man auf die Große Reise mitnehmen könnte, welchen sollte man wählen? Auf Kosten wessen und wovon? Und vor allem, wie sich selbst noch erkennen inmitten all dieser Schatten, Phantome, Titanen …? Wer sind wir denn bei Licht betrachtet? Sind wir, was wir gewesen sind oder was wir gern gewesen wären? Das Unrecht, das wir begangen oder jenes, das wir erlitten haben? Die Begegnungen, die wir verfehlt oder die Zufallstreffen, die den Lauf unseres Schicksals verändert haben? Die Kulissen, die uns vor der Eitelkeit bewahrt, oder das Rampenlicht, in dem wir uns die Flügel verbrannt haben? Wir sind alles zugleich, dieses ganze Leben, welches das unsrige war, mit seinen Höhen und Tiefen, seinen Wagnissen und Wechselfällen; sind zugleich die Summe aller Gespenster, die uns heimsuchen … sind mehrere Personen in einer und verkörpern die verschiedenen Rollen so überzeugend, dass es uns am Ende unmöglich ist zu unterscheiden, wer wir ursprünglich waren, zu wem wir geworden sind und welche von all diesen Personen uns überleben wird.
    Ich spitze die Ohren, lausche den Klängen von einst – ich bin nicht mehr allein. Da ist ein Wispern inmitten der Erinnerungsfetzen, wie Splitter, wenn etwas zu Bruch geht; verschlüsselte Sätze, verstümmelte Rufe, Gelächter und Schluchzer, unentwirrbar ineinander vermengt … Ich höre Isabelle, wie sie Klavier spielt – Chopin –, sehe ihre feingliedrigen Finger mit seltener Gelenkigkeit über die Tasten
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