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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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aus.«
    Michel bringt mich kurz nach Mitternacht in mein Hotel zurück, begleitet mich nach oben auf mein Zimmer und übergibt mir dort eine Blechdose mit einem winzigen Vorhängeschloss.
    »Meine Mutter hat mich wenige Tage vor ihrem Tod beauftragt, sie Ihnen persönlich zu geben. Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich einen Sprung nach Río machen müssen.«
    Ich nehme ihm die Dose ab, betrachte die alten, abgeblätterten Motive auf dem Deckel. Es ist eine uralte Pralinendose mit altertümlichem Dekor: Szenen vom Schlossleben, Edelleute im Park, Märchenprinzen, die am Brunnen mit ihrer Liebsten schäkern; dem Gewicht nach zu urteilen, kann nicht viel drin sein.
    »Ich hole Sie morgen früh um zehn Uhr ab. Wir werden bei der Nichte von André Sosa in Manosque zu Mittag essen.«
    »Gut, bis morgen um zehn dann, Michel. Und vielen Dank.«
    »Gerne, Monsieur Jonas. Gute Nacht.«
    Und er geht.
    Ich setze mich auf die Bettkante, mit der Pralinendose in meinenHänden. Was für ein Postskriptum von Émilie, was für ein Zeichen aus dem Jenseits mag das sein? Ich sehe sie noch vor mir, in der Rue des Frères-Julien in Marseille, an diesem heißen Märztag des Jahres 1964 , sehe ihren starren Blick, ihr Gesicht aus Erz, diese blutleeren Lippen, die meine allerletzte Chance, die verlorene Zeit aufzuholen, zunichtemachen. Meine Hand zittert; die Kälte des Blechs kriecht mir bis ins Mark. Ich muss die Dose öffnen. Spieldose oder Büchse der Pandora, was macht das schon für einen Unterschied? Wer achtzig ist, hat die Zukunft hinter sich. Vor ihm ist nur Vergangenheit.
    Ich entferne das kleine Vorhängeschloss, lüfte den Deckel: Briefe …! In dieser Dose sind nur Briefe. Briefe, von den vielen Jahren unter Verschluss vergilbt, manche vor Feuchtigkeit gequollen, andere sichtlich wieder geglättet, nachdem sie zerknüllt wurden. Ich erkenne auf dem Umschlag meine Handschrift wieder, die Briefmarken meines Landes … verstehe endlich, warum Émilie nie auf meine Post geantwortet hat – meine Briefe wurden niemals geöffnet, meine Grußkarten auch nicht.
    Ich schütte den Inhalt der Schachtel aufs Bett, sehe die Umschläge der Reihe nach durch, in der Hoffnung, einen Brief von ihr zu finden … Da ist ja einer, offenbar jüngeren Datums, er fühlt sich fest an, ohne Briefmarke, ohne Anschrift, nur mein Vorname ist darauf, und auf der Lasche ein Streifen Tesafilm.
    Ich traue mich nicht, ihn zu öffnen.
    Morgen, vielleicht …
    Wir essen bei Andrés Nichte in Manosque zu Mittag. Wieder kramen wir die alten Anekdoten hervor, aber so langsam geht uns die Luft aus. Ein anderer Pied-Noir trifft ein, um uns guten Tag zu sagen. Als ich seine Stimme höre, denke ich, es sei Jean-Christophe Lamy, der wieder auftaucht, und das verleiht mir einen erstaunlichen Schwung, der mich auf der Stelle verlässt, als ich merke, dass es doch nicht Jean-Christophe ist. Der Unbekannte leistet uns knapp eine Stunde Gesellschaft, dann ver abschiedeter sich. Je länger er unseren Geschichten lauschte, deren Hintergründe ihm ja völlig schleierhaft waren, umso klarer wurde ihm wohl, dass er trotz seiner oranesischen Herkunft – er stammt aus Lamoricière, nahe Tlemcen – einen Kreis von Vertrauten störte, eine Ordnung, die nicht die seine war … Bruno und Krimo verlassen uns als Erste, sie wollen zunächst nach Perpignan, wo Krimo bei seinem Kumpel Zwischenstation macht, bevor er nach Spanien zurückkehrt. Gegen sechzehn Uhr sagen wir André und seiner Nichte Lebewohl und bringen Fabrice zum TGV -Bahnhof von Aix.
    »Musst du denn wirklich morgen schon wieder zurück?«, fragt mich Fabrice. »Hélène würde sich so sehr freuen, dich wiederzusehen. Paris ist keine drei Stunden von hier entfernt. Du könntest das Flugzeug von Orly aus nehmen. Ich wohne gar nicht weit vom Flughafen.«
    »Ein andermal, Fabrice. Grüß Hélène von mir. Schreibt sie noch für ihre Zeitung?«
    »Sie ist schon seit einiger Zeit im Ruhestand.«
    Der Zug trifft ein, ein prachtvolles Monster. Fabrice schwingt sich auf das Trittbrett, umarmt mich ein letztes Mal und macht sich auf die Suche nach seinem Platz. Der Zug fährt an, gleitet gemächlich über die Schienen. Ich halte hinter den großen Scheiben nach meinem Freund Ausschau und entdecke ihn stehend, die Hand zum Gruß an der Schläfe. Dann entschwindet er mitsamt dem Zug.
    Zurück in Aix, lädt Gustave uns ins Deux Garçons ein. Nach dem Abendessen bummeln wir schweigend den Cours Mirabeau entlang. Das Wetter ist
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