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Die Entfuehrten

Titel: Die Entfuehrten
Autoren: Margaret Peterson Haddix
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Prolog
    Erst war es nicht da. Und dann war es da.
    Das waren die Worte, mit denen Angela DuPre das Flugzeug später beschreiben würde, immer und immer wieder, einem Ermittlungsbeamten nach dem anderen, bis man ihr befahl, nie wieder davon zu sprechen.
    Doch als sie das Flugzeug in jener Nacht zum ersten Mal sah, dachte sie weder an Geheimnisse noch an Rätsel. Sie fragte sich, wie viele Fehler sie sich wohl erlauben konnte, ohne gefeuert zu werden; wie viele Fragen sie stellen konnte, ehe ihre Vorgesetzte Monique aus der Haut fahren und sagen würde: »Jetzt reicht’s! Du bist zu blöd, um für Sky Trails Air zu arbeiten! Mach, dass du rauskommst!« Angela hatte den Zahlencode für Standby-Passagiere, die im letzten Moment einen Sitzplatz erhalten hatten, auf einem Haftzettel notiert und ihn an ihren Computerbildschirm geklebt. Das wusste sie genau. Aber irgendwie war der Zettel zwischen der Ankunft des Flugs aus Saint Louis und dem Abflug des Fliegers nach Chicago verschwunden. Jeden Augenblick konnte ein Stand-by-Passagier am Schalter aufkreuzenund eine Bordkarte verlangen, und sie würde sich an Monique wenden und leise fragen müssen: »Äh, wie war der Code noch mal?« Und dann würde Monique mit ihrer perfekten Frisur, ihren perfekten Fingernägeln, ihrer perfekten Sonnenbräune und dem vermutlich angeborenen Wissen sämtlicher Sky Trails-Codes die Zähne fletschen und die Augen zusammenkneifen und ihr den Code langsam und scheinbar geduldig noch einmal sagen. In diesem Ton sprach sie schon den ganzen Abend mit Angela, und was er eigentlich besagte, war:
Ich weiß, dass du geistig minderbemittelt bist, deshalb werde ich mich bemühen, ganz langsam zu sprechen. Allerdings sollte dir klar sein, dass das für mich eine außerordentliche Belastung darstellt, da ich dir haushoch überlegen bin.
    Angela war geistig nicht minderbemittelt. Sie hatte in der Schule und im Schulungslehrgang von Sky Trails gut abgeschnitten. Es war einfach nur ihr allererster Arbeitstag und Monique war von Anfang an gemein zu ihr gewesen. Jedes Stirnrunzeln, jeder feindselige Blick und jede Anspielung von ihr machten Angelas Angst und Unsicherheit nur noch schlimmer.
    Seufzend hob sie den Kopf. Sie brauchte eine Pause vom endlosen Absuchen des Bildschirms und dem Herbeiwünschen des verlorenen Haftzettels. Sie sah zu den Fluggästen hinüber, die sich im Terminal drängten: Erschöpfte Familien belagerten die Stühle und Geschäftsmänner in dunklen Anzügen hasteten durch den Gang.Welcher von ihnen würde wohl der Stand-by-Passagier sein, der zum Schalter eilen und ihr Leben ruinieren würde? Im Grunde genommen mochte Angela andere Menschen; sie war es nicht gewohnt, sie als Bedrohung anzusehen. Sie ließ den Blick über die Trauben der Fluggäste schweifen, hinüber zu der riesigen Glasfront auf der anderen Seite des Gangs. Draußen wurde es allmählich dunkel und Angela konnte in der Ferne die Lichter der Pistenbefeuerung funkeln sehen.
    Befeuerung, gefeuert, dachte sie zerstreut. Und dann – hatte sie geblinzelt? – waren die Lichter plötzlich verschwunden. Nein, verbesserte sie sich, sie waren
verdeckt
. Urplötzlich befand sich ein Flugzeug zwischen Angela und den Lichtern der Start- und Landebahnen. Ein Flugzeug, das schnurstracks auf das Terminal zuraste.
    Angela hielt erschrocken die Luft an.
    »Was ist denn jetzt?«, knurrte Monique und hörte sich dabei unglaublich erschöpft an.
    »Das Flugzeug«, sagte Angela. »Am Gate 2B. Es sah aus, als . . .« Was sollte sie sagen?
Als wäre es gar nicht da? Einfach aus dem Nichts aufgetaucht?
»Es sah aus, als wäre es viel zu schnell und könnte in das Gebäude rasen«, beendete sie den Satz hastig. Sie sah das Flugzeug direkt vor der Passagierbrücke zum Stillstand kommen. »Aber . . . es ist nichts passiert. Keine Sorge.«
    Monique wirbelte herum.
    »Niemals«, zischte sie in einem Ton, der zwar leise,aber voller unterdrückter Wut war: »Sprich so etwas
niemals
laut aus. Hast du im Schulungslehrgang nicht aufgepasst? Du darfst auf keinen Fall sagen, dass du glaubst, ein Flugzeug könnte oder würde verunglücken. Das Wort
Unglück
darfst du einfach nicht in den Mund nehmen. Kapiert?«
    »Okay«, flüsterte Angela. »Entschuldige.«
    Aber eine kleine, widerspenstige Stimme in ihrem Kopf flüsterte:
Ich habe doch gar nichts von
verunglücken
gesagt. Vielleicht hast
du
nicht aufgepasst. Und falls wirklich ein Flugzeug auf das Gebäude zurasen würde, wäre es dann nicht im
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