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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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der ankommenden Passagiere zu entdecken. Ein kleines Mädchen reißt sich von der Hand einer Verwandten los, wirft sich in die Arme einer Großmutter in Dschellaba. Eine junge Dame wird von ihrem Mann abgeholt; sie küssen sich auf die Wangen, aber ihr Blick ist feurig.
    Ein wenig abseits steht ein Fünfzigjähriger mit einem großen Pappschild in Händen, auf dem Río Salado zu lesen ist. Kurz ist mir, als hätte ich einen Wiedergänger vor mir. Das ist Simon, wie er leibt und lebt, rundlich und untersetzt, auf kurzen krummen Beinen, dazu die Stirnglatze. Und diese Augen, die mich mustern, die erraten, wer ich bin, mein Gott! Wie hat er es geschafft, mich inmitten all dieser Leute zu identifizieren, obwohl wir uns noch nie gesehen haben? Lächelnd kommt er aufmich zu und streckt mir eine plumpe Hand mit behaarten Fingern entgegen, ganz die Hand seines Vaters.
    »Michel …?«
    »Richtig! Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Monsieur Jonas. Hatten Sie eine gute Reise?«
    »Ich bin eingenickt.«
    »Haben Sie Gepäck?«
    »Nur diese Tasche.«
    »Sehr gut. Mein Wagen steht auf dem Parkplatz.« Er nimmt mir die Tasche ab und bittet mich, ihm zu folgen.
    Vor uns verzweigen sich die Straßen in schwindelerregendem Tempo. Michel fährt schnell, den Blick fest nach vorn gerichtet. Ich traue mich nicht, ihn offen zu mustern, begnüge mich mit verstohlenen Seitenblicken. Es ist verrückt, wie sehr er Simon nachkommt, meinem Freund, seinem Vater. Mein Herz zieht sich zusammen bei dieser flüchtigen Erinnerung. Ich muss tief durchatmen, um das Gift, das sich in meiner Brust bemerkbar macht, loszuwerden, konzentriere mich auf die Straße, die rasant unter uns durchflitzt, den blitzenden Slalom der Automobile, die Wegweiser, die über unseren Köpfen vorbeifliegen: Salon-de-Provence , geradeaus; Marseille , nächste Ausfahrt rechts; Vitrolles , erste Abzweigung links …
    »Ich nehme an, Sie sind hungrig, Monsieur Jonas. Ich kenne da ein nettes Bistro …«
    »Oh, das ist nicht nötig. Wir haben im Flugzeug zu essen bekommen.«
    »Ich habe Ihnen ein Zimmer im Hôtel des 4 Dauphins reserviert, in der Nähe des Cours Mirabeau. Sie haben Glück, wir werden die ganze Woche über Sonne haben.«
    »Ich bleibe nur zwei Tage.«
    »Alle hier möchten Sie wiedersehen. Zwei Tage werden kaum ausreichen.«
    »Ich muss nach Río zurück. Ein Enkel heiratet, und ich richte ihm die Hochzeit aus … Ich wäre liebend gern früher gekommen,um an der Bestattung teilzunehmen, aber um in Algier ein Visum zu bekommen, muss man Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Ich musste erst einen einflussreichen Bekannten einschalten …«
    Der Wagen verschwindet unter einer Glasfestung, die aus dem Nichts auftaucht.
    »Das ist der TGV -Bahnhof von Aix-en-Provence«, erklärt mir Michel.
    »Ich sehe gar keine Stadt.«
    »Es ist ein externer Bahnhof. Er wurde erst vor fünf oder sechs Jahren in Betrieb genommen. Bis zur Stadt ist es noch eine Viertelstunde … Waren Sie schon einmal in Aix, Monsieur Jonas?«
    »Nein … Um die Wahrheit zu sagen, ich war erst einmal in Frankreich. Im März 1964 , in Marseille. Ich bin abends angekommen und am Abend danach schon wieder abgereist.«
    »Ein Blitzbesuch?«
    »Gewissermaßen.«
    »Ausgewiesen?«
    »Verstoßen.«
    Mit gerunzelter Stirn sieht Michel zu mir herüber.
    »Das ist eine lange Geschichte«, sage ich, um das Thema zu wechseln.
    Wir durchqueren ein großes Gewerbegebiet, in dem es nichts als gewaltige Supermärkte, Geschäfte und überfüllte Parkplätze gibt. Riesige Neonschilder wetteifern mit Reklametafeln um die Aufmerksamkeit der Kunden, während sich eine Menschenflut in die Läden und Filialen ergießt. Ein Rückstau vor einer Abzweigung zieht sich über Hunderte von Metern hin.
    »Die moderne Konsumgesellschaft«, bemerkt Michel. »Die Leute verbringen ihr Wochenende am liebsten im Supermarkt. Schrecklich, nicht? Meine Frau und ich kommen jeden zweiten Samstag hierher. Wenn wir es einmal nicht schaffen, fühlen wir uns nicht wohl und sind so gereizt, dass wir uns wegen einer Lappalie in die Haare geraten.«
    »JederEpoche ihre eigene Droge.«
    »Sehr richtig, Monsieur Jonas. Jeder Epoche ihre eigene Droge.«
    Wegen eines Unfalls auf Höhe des Pont de l’Arc treffen wir etwa zwanzig Minuten später als erwartet in Aix-en-Provence ein. Das Wetter ist schön, die ganze Stadt hat den Schlüssel unter die Fußmatte gelegt und sich ins Zentrum aufgemacht. Die Bürgersteige wimmeln von Spaziergängern; die
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