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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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Streiche zu, mit denen sie in ihrer Jugend ganz Bab el-Oued unsicher gemacht hatten. Sie gaben sich diskret, brachten es aber fertig, dass man sie noch auf der Straße hörte. Und neben mir lallten sich zwei Zwillingsbrüder mit schwerer Stimme über einen Tisch hinweg an, auf dem sich leere Bierflaschen und überquellende Aschenbecher türmten. Mit ihrem schmutzig braunen Teint undder erloschenen Kippe im Mundwinkel, dazu dem zerknitterten Matrosentrikot, erinnerten sie an Hafenfischer in Algier oder an gealterte, zahm gewordene Zuhälter.
    »Hab ich dir doch gleich gesagt, dass das eine ganz Raffgierige ist, Bruderherz. Ganz anders als unsere Mädels daheim, die den Mann achten und dich nie fallen lassen würden. Und was findest du überhaupt an diesem Eisberg? Wenn ich mir nur vorstelle, wie du sie im Arm hältst, wird mir schon ganz anders. Außerdem bekommt sie noch nicht mal ein anständiges Ragout mit Sauce hin …«
    Ich trank drei oder vier Tassen Kaffee, ohne das Haus mit der Nummer 143 aus den Augen zu lassen. Dann aß ich zu Mittag. Nach wie vor keine Émilie in Sicht. Die Zechkumpane vom Tresen waren verschwunden, die Zwillinge auch. Der Geräuschpegel legte sich, schwoll mit Ankunft einer Clique leicht Beschwipster wieder an. Der Kellner zerschlug zwei Gläser und schüttete einem Gast eine Karaffe Wasser über die Kleidung, was dieser zum Anlass nahm, gewaltig vom Leder zu ziehen und kein gutes Haar am Lokal und an den Pieds-Noirs, an Marseille und Frankreich, Europa und den Arabern, den Juden und Portugiesen und seiner eigenen Familie zu lassen – »einem Haufen von Heuchlern und Egoisten« –, die es noch nicht einmal geschafft hätte, ihm eine Frau zu besorgen, obwohl er auf die vierzig zuging. Man ließ ihn ausspucken, was er auf dem Herzen hatte, dann komplimentierte man ihn auf die Straße hinaus.
    Das Sonnenlicht büßte an Strahlkraft ein; es war nicht mehr weit bis zur Abenddämmerung.
    Als mir vom langen Herumsitzen allmählich die Knochen weh taten, da endlich erschien sie . Barhäuptig, das Haar zum Knoten geschlungen, kam sie aus der Haustür. Sie trug einen Regenmantel mit breitem Kragen und kniehohe Stiefel. Wie eine Oberschülerin auf dem Weg zu ihren Freundinnen schritt sie eilig davon, die Hände in den Taschen.
    Ich legte mein restliches Kleingeld in den Brotkorb, den der Kellner auf dem Tisch vergessen hatte, und lief ihr nach.
    Plötzlichüberkam mich Angst. Hatte ich das Recht, ohne Vorwarnung in ihrem Leben aufzukreuzen? Hatte sie mir überhaupt verziehen?
    Um den Missklang dieser Fragen zu übertönen, rief ich spon tan:
    »Émilie!«
    Sie blieb abrupt stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Mauer gestoßen. Sie musste wohl meine Stimme erkannt haben, denn sie spannte Schultern und Nacken an. Sie drehte sich nicht um. Nachdem sie eine Weile – vergebens – gehorcht hatte, setzte sie ihren Weg fort.
    »Émilie!«
    Diesmal fuhr sie derart heftig auf dem Absatz herum, dass sie fast hingefallen wäre. Ihre Augen glänzten im aschfahlen Gesicht; doch sie fasste sich sofort, unterdrückte ihre Tränen … Wie ein Idiot lächelte ich ihr zu, etwas anderes fiel mir nicht ein. Was sollte ich ihr sagen? Wo beginnen? Ich war so ungeduldig gewesen, sie endlich wiederzusehen, dass ich überhaupt nicht vorbereitet war.
    Émilie sah mich fragend an.
    »Ja, ich bin’s.«
    »Ja …?«
    Ihr Gesicht schien aus Erz gemacht, ein blinder Spiegel. Ich konnte nicht fassen, dass sie so kalt reagierte.
    »Ich habe überall nach dir gesucht.«
    »Und warum?«
    Die Frage verschlug mir die Sprache. Ich hatte mit allem, nur nicht damit gerechnet. Wie war es möglich, dass sie gar nicht wahrnahm, was ihr doch ins Auge springen musste? Mir erging es wie einem Boxer, den es im Eifer des Gefechts erwischt. Mein ganzer Schwung war hin.
    Ich hörte mich stammeln:
    »Wie … was … warum? Ich bin doch nur wegen dir hier.«
    »Wir haben uns in Oran alles gesagt.«
    Sie bewegte nur die Lippen.
    »InOran lagen die Dinge anders.«
    »Oran oder Marseille, das nimmt sich nichts.«
    »Du weißt genau, dass das nicht stimmt, Émilie. Der Krieg ist vorbei, das Leben geht weiter.«
    »Für dich vielleicht.«
    Mir brach der Schweiß aus. »Ich hatte ernstlich geglaubt, dass …«
    »Da hast du dich geirrt!«, unterbrach sie mich. Diese Kälte! Sie ließ meine Gedanken, meine Worte, meine Seele gefrieren.
    Mit dem Blick hielt sie mich auf Abstand, bereit, mich zur Strecke zu bringen.
    »Émilie … Sag mir, was ich
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