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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer
Autoren: Ann Benson
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sterben, erklärte sie, so sicher, wie die Sonne auf- und wieder unterging. Und viele dieser Auf- und Untergänge würde er nicht mehr genießen können.
    Als ihm die Wahrheit dieser Erklärung dämmerte, verhielt er sich wie der große Kämpfer, als der er sich immer erwiesen hatte. Milord Guy machte sich mit großer Entschlossenheit an die Vorbereitungen für seinen eigenen Abgang. Trotz heftiger Schmerzen versammelte er all die Männer um sich, die seinen letzten Willen bezüglich seiner Söhne in die Tat würden umsetzen müssen, einschließlich der Söhne selbst.
    Der Junge René de la Suze war noch ein kleiner Knabe und konnte die Bedeutung der Ereignisse, die ihn umschwirrten, kaum begreifen. Meist starrte er seinen Vater nur verständnislos an, denn das, was bevorstand, überstieg seinen Horizont.
    Milord Guys Erstgeborener hingegen, Gilles de Rais, der zu der Zeit erst elf Jahre alt war, schien alles aufzunehmen mit einem Verständnis, das sein Alter überstieg. Während René in Gegenwart seines verstümmelten Vaters Furcht zeigte, wollte sein älterer Bruder Gilles sich auch in den schrecklichsten Augenblicken nicht vertreiben lassen, sondern stand da und schaute. Er ließ verlauten, dass er anwesend sein wollte, wenn die Verbände seines Vaters gewechselt und neue Breiumschläge aufgelegt wurden. Während alle anderen Guy de Laval im Stich ließen und sich auf Jean de Craons Seite schlugen, blieb Gilles am Bett seines Vaters.
    Ich, die ihn so gut kannte, war vermutlich die Einzige, die bemerkte, dass Gilles’ edle Hingabe an seinen Vater vermischt war mit einem beunruhigenden Gefesseltsein. Und trotz meiner zärtlichen Nachsicht für etwas, das nur ein jugendliches Nichtverstehen der Schwere unserer Not sein konnte, beunruhigte es mich ebenso, dies an ihm zu bemerken.
    Der Junge ist viel zu gefesselt von all dieser Grässlichkeit, und ich fürchte um die Reinheit seiner Seele, sagte ich zu Etienne. Die Hebamme beklagt sich, dass er sie nicht ungestört arbeiten lässt, sondern seine Hände auf die Wunde legt, während sie sie verbindet.
    Es schauderte mich, als ich mir diese Neugier bei jemandem in einem so zarten Alter ins Gedächtnis zurückrief, jemandem, der ein solch morbides Vertieftsein noch nicht kennen sollte. Alle Damen des Schlosses sprachen hinter Marie de Craons Rücken schlecht über sie, als hätte sie selbst diese befremdliche Neigung in ihrem Sohn hervorgerufen.
    Allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, als sie selbst starb, plötzlich und unerklärlich, nur einen knappen Monat nach ihrem Gatten. Dann wurde sie zur Heiligen, und ich, seine Amme, zur Dämonin, die ihren Sohn verdorben hatte.
     
    Plötzlich merkte ich, dass ich mitten im Wald stehen geblieben war, und ich fragte mich, wie lange ich schon hier stand. Das trockene, kristalline Geräusch sich aneinander reibender Blätter und das Murmeln des Windes jagten mir einen Schauer über den Rücken, der mich aus den Fängen meiner dunklen Erinnerungen riss. Doch Bilder dieses mächtigen Keilers standen mir unerschütterlich vor Augen – sein gewaltiger, zustoßender Kopf mit der langen, spitz zulaufenden Schnauze, die in einer tödlichen Waffe endete, die scharfen, paarzehigen Hufe, die mit einem einzigen Streich große Klumpen Erde aufreißen und Fleisch zerfetzen konnten.
    Das Rascheln der Blätter, das Knacken der Zweige, diese Geräusche hinter mir in den Bäumen …
    Ich sagte ihr, sie solle eine der jüngeren Frauen schicken. Das würde Seine Eminenz sagen, wenn sie meinen zerfetzten und blutigen Leichnam schließlich fänden. Sie hätte zulassen sollen, dass Frère Demien sie begleitet. Aber sie wollte ja nicht hören. Guillemette wollte nie hören.
    Der Gedanke, dass er in einer solch scheinheiligen Pingeligkeit schwelgte, genügte mir als Inspiration, um meine Beine wieder zu entdecken, die mich mühelos weg von diesem Ort der Gefahr trugen und zu einem kleinen Fleckchen führten, wo zu meiner Freude die Sonne durch die dünn stehenden Bäume schien. Ich ruhte mich aus in diesem kostbaren Licht, bis mein Herz sich beruhigt hatte und ich wieder den Atem hatte, um weiterzuwandern, was ich mit frischer Entschlossenheit tat. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als ich schließlich aus dem Wald heraus und auf die flache, offene Wiese vor Machecoul trat. Nicht weit entfernt lag der Marktplatz, wo ohne Zweifel bereits geschäftiges Treiben herrschte und ich Schutz finden würde in der Menge der Bauern, Kurzwarenhändler, Schmiede
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