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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer
Autoren: Ann Benson
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junger Herr in voller Blüte – hätte es in seiner Familie mehr zu erben gegeben, hätte er ein kleines Gut sein eigen nennen können. Für einen Mann, der sich diese Berufung nicht selbst erwählt hatte, erfüllte er seine Pflichten bewundernswert – und mit irritierender Tatkraft.
    »Wenn Ihr in meinem Alter seid, werdet Ihr die Morgenkühle weniger genießen, als Ihr es jetzt tut«, versprach ich ihm. »Aber die Sonne wird sie schnell vertreiben.«
    »Gut so – Seine Eminenz sagt, dass Ihr heute eine Reise nach Saint-Honoré unternehmt. Ein malerisches Kirchspiel. Aber ich war überrascht, dass unser maître Euch gehen lässt.«
    Also hatte Jean de Malestroit meinem jungen Gefährten bereits aufgetragen, mich zu begleiten. Einen Augenblick lang war ich ein wenig erfreut, wie ich zu meiner Schande gestehen muss – doch nur, bis die Verärgerung einsetzte. »Dies hier ist ein Schleier, keine Kette«, sagte ich. »Soll ich mich nicht auf eine Reise meiner eigenen Wahl begeben dürfen?«
    »Nun, da das Osterfest so kurz bevorsteht, frage ich mich nach dem Grund.«
    Nach einer Pause erwiderte ich: »Aus keinem anderen Grund als dem Erwerb von einigen Unabdingbarkeiten.«
    »Aha«, sagte er mit einem kleinen weisen Lächeln. »Ich frage nur«, sagte er, »weil Ihr an diesem Morgen so … erschöpft wirkt. Müde vielleicht. Als hättet Ihr eine Last zu tragen.«
    Ich hatte mich in unserem einzigen Spiegel nicht betrachtet – doch ich nahm an, dass die Schlaftränen der vergangenen Nacht in meinem Gesicht ihre Spuren hinterlassen hatten. Ich senkte den Blick und ging schweigend neben ihm her.
    »Habt Ihr etwas, das Ihr gern beichten würdet, Mutter?«
    Segnet mich, Bruder, der Ihr noch jünger seid als mein eigener Sohn, denn ich habe das schwere Vergehen übertriebener Neugier begangen und auch die Sünde übermäßigen Gefühls.
    »Nein, Bruder, aber ich danke Euch. Meine Sünden sind heute nicht allzu bedeutsam.«
    »Der Tag ist noch jung«, sagte er.
    »Und noch gibt es Hoffnung auf Ungehörigkeit.« Wir lachten beim Abschied.
    Danach oblag es meiner Entscheidung, die Pflichten des Haushalts zu verteilen, worauf ich viele finstere Blicke von den jungen Bräuten Christi erntete, die unter meinem Befehl zum Wohle der Kirche arbeiteten. Als ich vor Verlassen der Stadt über die Märkte von Nantes wanderte, konnte ich nicht umhin zu bemerken, dass alles, was ich angeblich brauchte, gleich hier verfügbar war, und wahrscheinlich in größerer Auswahl, als ich es in Machecoul finden würde. Jean de Malestroit wusste das zweifellos ebenfalls, trotz seiner angeblichen seligen Unwissenheit in diesen Dingen. Ich hätte schlauer sein müssen, tadelte ich mich.
    Das Stück Käse und der Ranken Brot, die ich in meinem Ärmel verstaut hatte, schlugen gegen mein Bein. Ich hörte auf, mir den Brief meines Sohnes Jean vorzusagen, und fing an, zum Rhythmus des Schiagens eine kleine Melodie zu summen. Zwischen den Bäumen drangen Geräusche hervor – das Knacken von Zweigen, das Rascheln von Laub, das Zwitschern und Piepsen kleiner Tiere. Bei jedem Schritt erwartete ich fast, dass das Unbekannte, welches im Dickicht zu beiden Seiten des Pfades lauerte, heraussprang und mich anfiel. Ich dachte an Madame le Barbier, die am Abend zuvor – nach ihrem vergeblichen Vorsprechen bei Jean de Malestroit – diesen Wald ebenfalls durchquert haben musste; Unterkünfte an diesem Weg waren rar und vermutlich sogar für eine wohlhabende Geschäftsfrau zu teuer. Sie hatte das Kloster weit nach Sonnenuntergang im Licht einer einzelnen Fackel verlassen. Sicherlich hatte ihr Arm bereits entsetzlich geschmerzt, als sie diesen Punkt erreichte.
    Ich hatte Angst, und Angst in diesem Wald war vernünftig und richtig, denn überall lauerten wilde Tiere. Weder die legendären güldenen Löwen Äthiopiens noch die weißen Bären der Nordländer, die unsere tapferen Ritter mit juwelenbesetzten Schwertern erlegt hatten, nicht die Fabelwesen also, deren Geschichten uns an kalten Abenden vor dem Kamin einen Schauer über den Rücken jagen. Hier im Wald sind es abscheuliche Untiere mit Hauern und verfilztem Fell, die grunzen und die Erde aufwühlen und deren Wut feurig aus feuchten Augen glüht, die zu klein sind für ihren riesigen, ungestalten Kopf.
    Es geschah in einem Dickicht wie diesem in der Nähe des Palastes von Champtocé, dass Guy de Laval, Vater von Milord Gilles de Rais, den Keiler traf, der ihn das Leben kostete.
    Sein Ausflug in den Wald an
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