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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer
Autoren: Ann Benson
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Kinder essen …
    Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, und in Wahrheit wollte ich es auch gar nicht wissen. Auf jeden Fall nicht in diesem Augenblick, da ich selbst in Gefahr war, gefressen zu werden, von wer weiß was für einem abscheulichen und grässlichen Untier. Ich weiß besser als die meisten, dass solche Untiere hier lauern, oft unsichtbar, das böse Maul geduldig aufgerissen.
    Ein gesegneter Lichtstrahl schlich sich durch die Bäume und flackerte – hatte ein Vogel sich auf einen Ast gesetzt, oder war es nur mein eigener, zu lange angehaltener Atem, den ich jetzt zu schnell ausstieß? Ich sehne mich immer verzweifelt nach Licht; die ganze Welt spricht voll Hoffnung von der Zeit nach dem Ende der Kriege, falls diese je anbrechen sollte, wenn Beleuchtung kein solcher Luxus mehr sein wird, wie sie es jetzt ist. Nur selten vergeuden wir künstliches Licht zur gegenseitigen Betrachtung, wenn auch nur noch der dünnste Faden Tageslicht vorhanden ist, denn es gibt weisere Verwendungen – wie es für all die kleinen Gnaden des Lebens weisere Verwendungen gibt als die, welche wir so töricht erwählen.
    Früher war Licht im Überfluss vorhanden, ganz nach dem Belieben von Milord de Rais in seiner Residenz in Champtocé, und ich – in diesen Tagen Madame Guillemette la Drappière, Eheweib von Milords treuem Gefolgsmann Etienne – konnte beinahe nach Lust und Laune darin baden. Jetzt bin ich auf Gott angewiesen, dass er mir Helligkeit schenkt, obwohl ich Gott heutzutage nicht mehr so liebe, wie ich es tat, bevor ich La Mère Supérieure wurde, oder, wie der gestrenge Jean de Malestroit mich zu nennen beliebt, ma sœur en Dieu. Eine bessere Frau als ich würde die Wohltat angemessener – nein, sogar üppiger – Lebensumstände wohl zu schätzen wissen. Bei so vielen Frauen, die wegen mangelnder Ernährung nach und nach ihre Zähne ausspucken, sollte ich mehr als dankbar sein für mein großes Glück. Doch es ist nicht das Leben, nach dem ich mich sehne, nicht das, welches ich hatte und liebte. Dennoch waren sich nach dem Tode meines geliebten Gatten alle außer mir selbst einig, dass es das Beste für mich sei.
    Mein süßer Etienne kämpfte tapfer mit Milord de Rais unter dem Banner der Jungfrau in der großen Schlacht von Orléans an einem Tag, als viele tapfere Männer ihr Leben ließen. Sein Oberschenkel wurde durchbohrt vom Pfeil eines englischen Bogenschützen, Gott verfluche deren unheimliche Geschicklichkeit. Sein Bein schwärte, wie es bei tiefen Wunden oft geschieht. Die Hebamme – leider hatten wir keinen Arzt, obwohl niemand daran zweifeln sollte, dass sie beinahe so gut war wie einer – bestand darauf, dass, um ihm sein Leben zu retten, das Bein abgenommen werden müsse. Doch er willigte nicht ein.
    Wie kann ich, als Soldat und Förster, meinem Herrn de Rais anständig dienen, wenn ich ein Krüppel bin?, sagte er zu mir.
    Ihm war also nicht der ehrenvolle Tod auf dem Schlachtfeld vergönnt, nach dem alle Krieger sich insgeheim sehnen, sondern ein langsames Dahinsiechen in Schmerz und Verfall. Als er schließlich doch abberufen wurde, um den Soldatenlohn zu empfangen, war meine Stellung in Milord de Rais’ Haushalt längst einer weniger abgelenkten Frau übergeben worden. Hätte ich Besitz geerbt, hätte ich mir eines anderen Gatten gewiss sein können. So aber bekam mich Gott.
    Jetzt ist es mir ein Anliegen, mich nützlich zu machen, denn ich könnte es nicht ertragen, noch einmal vertrieben zu werden. Ich bin ein stiller Schatten Seiner Eminenz, der als Bischof von Nantes und als Kanzler der Bretagne zwei anspruchsvollen Herren dient: der eine unsagbar göttlich, der andere grausam sterblich. Welcher Herr ihn vollkommener beherrscht, hängt oft davon ab, wessen Interessen eher seinen eigenen in diesem Augenblick entsprechen, aber in den dreizehn Jahren meines Dienstes hier habe ich ihn, trotz dieses bedauerlichen Makels in seinem Wesen – den außer mir nur wenige kennen –, sehr zu schätzen gelernt.
    Dennoch ist dies nicht das Leben, nach dem ich mich sehne.
    »Ich muss nach Machecoul«, sagte ich ihm an diesem Morgen. »Ein paar kleine Erledigungen, einige Vorräte …«, erklärte ich ihm.
    »Es ist alles auf dem dortigen Markt zu finden.«
    »Nun ja, es ist keine übermäßig lange Reise nach Machecoul, aber vielleicht solltet Ihr doch überlegen, eine der jüngeren Frauen zu schicken.«
    Es gelang mir, meine Verärgerung zu verbergen. »Ein solider Marsch, fürwahr, aber es wird
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