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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars
Autoren: Frank W. Haubold
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Glauben abgefallen?
    In diesem Augenblick hob der Japaner den Kopf und musterte ihn mit einem so durchdringenden Blick, als habe er in seinen Gedanken gelesen. Das ist unmöglich, dachte Martin mit einer Spur Unbehagen. Dennoch wandte er sich nicht ab, und er verschloß sich auch nicht, als er die Aufmerksamkeit der anderen auf sich gerichtet sah, nein, spürte. Etwas würde geschehen, jetzt, und obwohl ein Teil von ihm sich davor fürchtete, war es ihm nicht möglich, sich zu entziehen. Nichts geschah zufällig. Megotei haleb, namut katete. Er wiederholte die Worte immer wieder, versuchte sich daran festzuhalten, während er fiel, immer weiter fiel, wie ein Stein in einen endlos tiefen Brunnen. Zuletzt schrie er sie hinaus, schrie an gegen Wahnsinn und Todesangst, die ihn zu überwältigen drohten, bis er das Bewußtsein verlor.
    Es wurde nicht dunkel um ihn, wie er bis zuletzt gehofft hatte, und die Gnade einer Ohnmacht blieb ihm verwehrt. Vielmehr tauchte er ein in einen Strudel von Bildern, Stimmen, Gedanken und Emotionen, die mit einer Gewalt auf ihn einstürmten, die jeden Gedanken an Flucht oder Widerstand im Augenblick seines Entstehens auslöschte. Martins winziges, verletzliches Ich tauchte ein in dieses Meer aus Erinnerungen und Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten und gab sich auf. Es war keine Frage eigenen Wollens oder Widerstrebens, sondern der gleiche zwangsläufige Prozeß, mit dem sich ein Tropfen Tinte in einem Wasserglas auflöst. Und wie der Tintentropfen das Wasser färbt, veränderte er damit auch den Ort, der ihn aufnahm. Das Chaos der Bilder begann sich zu ordnen, und die Wogen ungezügelter Emotionen glätteten sich langsam. Die Stimmen der Furcht und des Wahnsinns verstummten eine nach der anderen und machten der Erwartung Platz. Erinnerungen fanden Platz in neuen Strukturen, und allmählich bildeten sich erste, noch unbeholfene Denk- und Verhaltensmuster heraus. Martin – oder jener Teil seiner Persönlichkeit, der noch Bestand hatte – war Teil dieses neuen Bewußtseins. Das Gefühl, etwas Fremdem, Unverständlichem wehrlos ausgeliefert zu sein, schwand und wich einem tiefen Erstaunen. Allmählich begriffen er und jeder von ihnen die Natur dessen, das ihnen widerfahren war. Und nach einer Schrecksekunde der Scham begannen sie sich wie selbstverständlich der Möglichkeiten zu bedienen, die ihnen der neue, immer noch fremdartig anmutende Raum ihres gemeinsamen Bewußtseins bot.
    Die alte Sprache mit ihrem immensen Wortschatz half ihnen, bisherige Denkgewohnheiten hinter sich zu lassen und sich dem Neuen zu öffnen. Und neu war nicht nur die Vervielfachung des Wissens, das jeder einzelne von ihnen im Laufe seines Lebens zusammengetragen hatte. Die dramatischste Veränderung war emotionaler Natur. Es gab keine Geheimnisse mehr, keine verborgenen Schuldgefühle, keine eifersüchtig gehüteten Laster und Leidenschaften und keine Selbstzweifel. Jeder wußte alles – wirklich alles – über den anderen und mußte sich dennoch nicht bloßgestellt oder peinlich berührt fühlen, da er ja zu einem Gutteil gleichzeitig der andere war.
    Isao Sukawi hätte niemals einem anderen Menschen anvertraut, was seiner Geliebten Misaki widerfahren war. Es waren seine eigenen Schüler gewesen, die sie im Klostergarten erwürgt, in Stücke geschnitten und verbrannt hatten. Sie hatten es ihm gestanden, stolz wie Kinder, die einen lästigen Köter vom Hof gejagt hatten, ohne zu begreifen, daß Liebe und das göttliche Licht Geschwister sind. Er hatte es sich, nicht ihnen, niemals verziehen. Jetzt, da sie es alle wußten, war es auch ihnen allen widerfahren. Sie teilten seine Trauer, nicht aber seine im Grunde irrationalen Selbstvorwürfe. Und so war die Last von ihm/ihnen genommen.
    Und auch Martin erfuhr etwas: Anna Santini war nicht weggegangen. Sie war bei dem Sprengstoffanschlag auf den Flughafen Fiumicino umgekommen. Pierre Flemming hatte es herausgefunden, aber für sich behalten. Hätte er es Martin erzählt, hätte der ihn dafür gehaßt. Aber auch wenn er zugegeben hätte, es verschwiegen zu haben, wären sie keine Freunde mehr gewesen. So aber waren sie mehr als das: Pierre Flemming, Nikolai Borodin, Isao Sukawi, Julius Fromberg, Arif Tursun, Tom Benett und Martin Lundgren. Sie waren Khemani solva takrit – »Gefährten des kleinen Kreises«. Und sie hatten den ersten Schritt getan ...
     
    Als der Morgen aufdämmerte und der erste Streifen Licht den Horizont färbte, glitt ein winziges Segelboot
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