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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars
Autoren: Frank W. Haubold
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die entfesselten Elemente damit bändigen. »Sadaika halum kor!« »Sadaika, wir kommen!« Er schrie es hinaus, immer wieder, bis ihm der Atem ausging. Nach einem Augenblick der Schwerelosigkeit erschütterte ein letzter heftiger Schlag das Boot, und sie waren frei.
    Das Rauschen war jetzt irgendwo hinter ihnen. Weit hinter ihnen, wie Martin befand, nachdem er sich von dem Schock des Aufpralls erholt hatte. Sein erster Blick galt den Gefährten, und beruhigt stellte er fest, daß niemand fehlte. Erst dann wandte er sich um und starrte ungläubig auf die gischtsprühende Kaskade, die sich in einiger Entfernung hinter ihnen in den See ergoß. Waren sie tatsächlich von dort g e kommen? Und was war das überhaupt für ein Gewässer, auf dem sie jetzt trieben?
    Es war groß, sehr groß sogar, wenn ihn sein Gefühl nicht täuschte. Noch immer war es stockdunkel ringsum, und das Feuer beleuchtete nur einen winzigen Ausschnitt der Wasserfläche. Sie schien völlig unbewegt, aber die Geschwindigkeit, mit der sich das Boot vom Wasserfall entfernte, sprach für eine ablandige Strömung. Martins Blick wanderte hinauf zum Himmel, der sich wie eine sternbesetzte Kuppel über der weiten Wasserfläche wölbte. Der Cañon lag hinter ihnen, und damit auch die Enge und das Gefühl des Eingeschlossenseins. Martin atmete tief durch und spürte, wie sich seine Anspannung löste. Obwohl er keine Vorstellung hatte, wo sie sich befanden, zweifelte er keinen Augenblick daran, daß sie auf dem richtigen Weg waren. Es war jetzt nicht mehr weit.
    Die Männer im Boot schienen seine Zuversicht zu teilen. Zwar schauten sie sich aufmerksam nach allen Seiten um und versuchten sich zu orientieren, aber die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen schien sie nicht zu beunruhigen. Niemand hinterfragte den Kurs des Bootes, der eigentlich nur eine Folge der vorherrschenden Strömung war, und die Blicke, die Martin streiften, waren eher respektvoll als zweifelnd.
    Einzig Borodin, der Schachspieler, verhielt sich merkwürdig. Er saß regungslos, den Kopf im Nacken, und starrte wie gebannt nach oben. Martin folgte seinem Blick, ohne daß ihm etwas auffiel, das seine Aufmerksamkeit gerechtfertigt hätte. Nichts bewegte sich dort, weder die flinken Schatten von Phobos oder Deimos noch die Lichtspur eines vorüberziehenden Satelliten. Dennoch wandte der Russe seinen Blick nicht ab, sondern fixierte den Nachthimmel so fasziniert und gedankenverloren, als verfolge er dort eine besonders spannende Schachpartie.
    Schach ... Figuren ... Sterne, ging es Martin durch den Kopf, und plötzlich wurde ihm klar, was die Aufmerksamkeit des Russen erregt hatte: Es waren die Sterne. Etwas stimmte nicht mit ihnen. Zwar glaubte Martin einige der bekannteren Sternbilder wiederzuerkennen, aber sie wirkten seltsam verzerrt in ihren Proportionen. Hin und wieder fehlten sogar einzelne Sterne, während andere die Struktur der vertrauten Bilder störten. Martin war kein Astronom, aber er wußte, was das zu bedeuten hatte: Entweder sie waren nicht mehr am gleichen Ort, oder – was beinahe noch widersinniger erschien – nicht mehr in der gleichen Zeit ...
    Chelab meta katuri sun. Die Schlußfolgerung war so naheliegend, daß Martin verlegen den Blick niederschlug. Jetzt wußte er auch, was das für ein Meer war, dessen ausgetrocknetes Becken von den Menschen als »chaotisches Terrain« bezeichnet wurde. Es war Cho n draman – »der Spiegel der Zeit«. Und mit dem Phänomen der Zeit hatte natürlich auch die Botschaft zu tun, die ihnen Meer und Sternenhimmel vermittelten. In der alten Sprache erschien sie ebenso einfach, wie sie Martins früheres Selbst angesichts der Unmöglichkeit einer adäquaten Übertragung irritierte: »Zeit ist der Traum/Fluß der Furchtsamen.«
    Je länger er darüber nachdachte, desto weniger war Martin davon überzeugt, daß er die Botschaft schon in all ihren Facetten verstanden hatte. Aus einer Eingebung heraus suchte er den Blick Sukawis, aber der Japaner war so in Gedanken versunken, daß es unmöglich war, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Es war schwierig, den Gesichtsausdruck des Rätselmachers zu ergründen, dennoch erschien es Martin, als hätte sich sein Lächeln verstärkt. Wieder fragte er sich, was den »Meister der Meister«, wie er von seinen Schülern genannt wurde, mit ihnen an diesen Ort geführt hatte. Die Phänomene der Zeit konnten es kaum sein, wenn das Wenige, das Martin über Zen-Buddhismus wußte, der Realität entsprach. Oder war Sukawi vom
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