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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars
Autoren: Frank W. Haubold
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stand sogar auf, um besser sehen zu können, und wurde von seinen Nachbarn unter Gelächter auf seinen Platz zurückgezogen, wenn er das Gleichgewicht zu verlieren drohte.
    Die Felswände glitten jetzt immer schneller vorbei, und eigentlich hätte ihnen bange werden müssen angesichts der Gefahren, die einem so leichten Boot drohten, wenn ein ernsthaftes Hindernis auftauchte. Doch das Gegenteil war der Fall. Vielleicht waren es das Bewußtsein, den längsten Teil des Weges hinter sich zu haben, und die vermeintliche Nähe des Ziels, die ihnen dieses Gefühl der Unverwundbarkeit vermittelten, das sie an die längst entschwundenen Tage ihrer Jugend erinnerte – nein, nicht nur erinnerte, sondern sie für die Männer neu erstehen ließ. Etwas geschah mit ihnen. Es war, als sei eine Last von ihnen abgefallen – eine Last, die ihnen bis zu diesem Augenblick noch nicht einmal bewußt gewesen war. Vielleicht war es auch nur Müdigkeit gewesen, nicht Müdigkeit im Sinne von Schlafbedürfnis, sondern jene Art von Erschöpfung, die sich im Lauf der Jahre aus Enttäuschungen, Rückschlägen und verlorenen Hoffnungen aufbaut.
    Jetzt, da sie plötzlich von ihnen genommen war, konnten die Männer ihr Glück kaum fassen. Ihre Körper waren noch immer die alten, aber das waren nur Äußerlichkeiten. Wichtig war allein, wie sie sich fühlten, und sie fühlten sich großartig. Ein fast schwindelig machendes Gefühl der Erleichterung ließ ihre Herzen schneller schlagen und trieb das Blut schneller durch ihre Adern.
    Harani ter komnat, begriff Martin, als die Gespräche und das Lachen an Bord plötzlich verstummten. Die Worte der alten Sprache waren ihm ebenso vertraut wie ihre Bedeutung: »Das Geschenk der Reinigung«.
    Es gehört also dazu, dachte er mit einer Spur Enttäuschung, und ein Blick in die nachdenklichen Gesichter der Männer bestätigte ihm, daß auch sie verstanden hatten. Nichts geschah zufällig. Megotei haleb, namut k a tete.
    Doch ihm blieb keine Zeit für weitere Betrachtungen. Er hatte ein Schiff zu steuern, und das dumpfe Rauschen, das von fern an seine Ohren drang, verhieß zumindest Schwierigkeiten. Der Rätselmacher, der seine Haltung die ganze Zeit über nicht verändert hatte, hob jetzt den Blick und nickte Martin unmerklich zu. Was wußte er? Der kahlköpfige Japaner blieb für Martin eine Sphinx. Was bewog einen hochgeachteten Zen-Meister, sein Kloster zu verlassen, um fortan Rätsel zu entwerfen? Jene geheimnisvolle Frau, die Martin nur einmal von fern gesehen hatte? War es eine Schülerin gewesen? Was hatte ihn auf den Mars geführt, wo er doch an jedem beliebigen Ort des Satori hätte teilhaftig werden können? Weshalb ging er jetzt mit ihnen? Und wieder: Was wußte er über die gläserne Stadt?
    In einem hatte er jedenfalls recht behalten: Sie kamen in unruhiges Wasser. Die Felsen waren näher zusammengerückt, und auf der dunklen Wasserfläche zeigten sich die ersten Wellen und Strudel. Schon jetzt war das Boot beängstigend schnell; die Wände flogen förmlich vorbei, und das Brausen der vor ihnen liegenden Stromschnellen wurde rasch lauter. Die Männer im Boot mußten es ebenfalls hören, dennoch zeigten sie keinerlei Unruhe. Martin beneidete sie um ihre Gelassenheit. Er spürte die Blicke, die auf ihn gerichtet waren und jede seiner Bewegungen registrierten. Er war der Steuermann, der einzige, der etwas tun konnte, wenn es gefährlich wurde. Sie vertrauten ihm – einmal mehr. Dabei konnte er nichts weiter tun, als das Boot in der Mitte des Stroms zu halten, alles andere lag nicht in seiner Hand. Normalerweise hätte ihn dieser Gedanke beunruhigen müssen, doch dem war nicht so, im Gegenteil: Je wilder sich der Strom gebärdete, je lauter das Tosen des zu Tal stürzenden Wassers von den Felsen widerhallte, um so stärker und unbekümmerter wurde sein Mut.
    »Heda!« rief er, als das Boot wie ein Geschoß in die schäumende Gischt eintauchte. »Heda! Gebt den Weg frei!« Und obwohl Strömung und Wellenschlag das Boot mit unwiderstehlicher Kraft packten und durchrüttelten, daß es in Stücke zu brechen drohte, hielt er das Steuer fest. Hielt es fest, während der Schiffsrumpf von heftigen Schlägen erschüttert wurde und das Rauschen der aufgewühlten Wassermassen jedes andere Geräusch übertönte. Die Knöchel seiner Finger färbten sich weiß, und die Sehnen an den Armen traten hervor wie straff gespannte Saiten, aber er ließ das Ruder nicht los.
    »Heda!« schrie Martin Lundgren, als könne er
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