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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars
Autoren: Frank W. Haubold
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lautlos über die dunkel schimmernde Wasserfläche des Chondraman. Der Wind, kaum stärker als ein Hauch, vermochte nicht einmal den Dunstschleier über dem Wasser zu vertreiben, doch er füllte die filigranen Segel und trug das Boot und seine Besatzung dem Ziel entgegen. Die Männer an Bord bewegten sich nicht und sprachen auch nicht miteinander. In ihrer Reglosigkeit ähnelten sie Statuen, selbst die hoch aufgerichtete Gestalt am Heck, die das Ruder hielt.
    Sie waren unterschiedlicher Größe und Hautfarbe, dennoch ähnelten sie einander auf schwer zu beschreibende Weise. Vielleicht waren es die Augen oder ihre Haltung, die diese Ähnlichkeit suggerierten. Sie waren alt, ihre Gesichter faltig und die Haare weiß oder längst ausgefallen. Ein irdischer Betrachter hätte sie des Leichtsinns geziehen, denn die Nächte waren kalt und die Männer nur leicht bekleidet. Aber es gab keinen irdischen Betrachter, nicht an diesem Ort jenseits der Zeit und nicht auf dem gesamten Planeten.
    Der Lichtstreifen am Horizont wurde breiter und färbte sich rötlich. Die Oberfläche des Sees war jetzt nicht mehr pechschwarz, sondern schimmerte wie dunkles Perlmutt. Das Segelboot zog weiter schnurgerade seine Bahn, dem jenseitigen Ufer entgegen, dessen hochaufragende Felsen sich jetzt wie die Türme einer riesigen Festung aus dem Dunst erhoben. Einer davon, der größte, ähnelte einem umgedrehten »V«: Agrotei Chalot, das die Menschen »Tor der Schmerzen« genannt hatten.
    Martin sah es als erster, und die Männer auf dem Bänken sahen es mit ihm, denn seine Augen waren auch die ihren. Sie empfanden keine Furcht, als es größer wurde und das Boot geradewegs auf den dunklen Spalt zwischen den riesigen Felssäulen zusteuerte. Sie glaubten nicht, daß es sie aufhalten würde, denn sie hatten alles hinter sich gelassen: den Schmerz, der nicht mehr brannte, weil sie ihn angenommen hatten, den Zorn und zuletzt die Dunkelheit, in der sie – jeder für sich – befangen gewesen waren. Nein, das riesige, lichtverschlingende Tor vor ihnen mochte sein steinernes Maul bis zum Himmel aufreißen, aufhalten konnte es sie nicht.
    Sie waren hier, weil sie einen Traum gehabt hatten. Weshalb die Wahl auf sie gefallen war, wußten sie nicht, aber sie ahnten, daß es nicht zufällig geschehen war. Megotei haleb, namut katete. Sie waren ihm gefolgt, im Vertrauen darauf, daß sie ihn finden würden, diesen magischen Ort, und daß er sie annehmen würde, wenn die Zeit gekommen war. Diese Hoffnung hatte ihnen Kraft gegeben in Kälte und Einsamkeit, und manchmal war sie das einzige gewesen, das sie am Leben hielt.
    Sie hatten gewartet, unvorstellbar lange nach den Maßstäben derer, von denen sie kamen, aber es waren keine verlorenen Jahre gewesen. Die Welt, in der sie lebten, hatte sie geformt in dieser Zeit. Sie hatten gelernt, den Stimmen des Windes zu lauschen, dem Rauschen uralter Ozeane und dem geschäftigen Wispern des Sandes. Sie hatten den Chanan kennengelernt, die Stimme derer, die Teil eines universellen Bewußtseins geworden waren, das auf der Suche nach seinesgleichen ruhelos das All durchforschte. Und sie hatten von jenen erfahren, die der äußeren Welt entsagt und eins geworden waren mit dem Meer, dem Sand und den Felsen. Sie hatten sich ihnen nie gezeigt, und doch gab es Orte, an denen ihre Präsenz zu ahnen war – im flüchtigen Spiel der Schatten oder im Nachhall eines längst verklungenen Liedes.
    Welchen Weg sie selbst gehen würden, wußten die Männer nicht. Aber wie jene, die ihnen vorangegangen waren, würden sie eine Entscheidung treffen, wenn die Zeit gekommen war ... Chelab meta katuri sun – Sie korrigierten ihren Irrtum augenblicklich: Zeit war nicht mehr als eine Illusion , und wahrscheinlich würden nicht sie es sein, die jene letzte Entscheidung trafen.
    Dennoch empfanden die Männer so etwas wie Wehmut, als sie in den Schatten des Felsentores eintauchten, das sich über ihnen wölbte wie das Portal eines gewaltigen Domes. Sie überquerten eine Grenze und wußten, daß es keine Rückkehr gab. Es war kein wirklicher Abschied, denn alles, was ihnen wichtig war, trugen sie in sich, dennoch verspürten sie ein vages Gefühl des Bedauerns wie beim Betrachten alter Familienfotos.
    Das Boot glitt weiter lautlos durch die Dunkelheit, während die Männer ihren Erinnerungen nachhingen. Und natürlich dachten sie an jene, die sie zurückgelassen hatten: Anna, Djamila, Julia ... Wo mochten sie jetzt sein? Sie glaubten die Antwort zu
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