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Die Ruhe Des Staerkeren

Die Ruhe Des Staerkeren

Titel: Die Ruhe Des Staerkeren
Autoren: Veit Heinichen
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hatte sie weniger Schmerzen. Pina humpelte zu ihrem Fahrrad und hob es auf, doch ganz gegen ihre Hoffnung konnte sie die Pedale nicht treten. Sie stützte sich am Lenker ab und hinkte neben dem Drahtesel Richtung Straße, als sie Hufschlag und ein regelmäßiges Schnauben vernahm. Die Panik stieg wieder in ihr auf, ein Reiter hatte oft genug einen Hund dabei. Sie ließ das Fahrrad los und versuchte, trotz der Schmerzen eine Kampfstellung einzunehmen. Wenn der Drecksköter noch einen Angriff wagte, dann hätte sein letztes Stündlein geschlagen, denn diesmal stand sie in einer vorteilhafteren Ausgangsposition. Noch im Sprung würde sie ihn erwischen, so, wie sie es ein paar tausendmal trainiert hatte. Schnell genug wäre sie und der Schmerz in ihrem Fuß erst nach der erfolgten Abwehr unerträglich. Dann sah sie den Reiter, der im Damensattel und in versammeltem Galopp auf einer Lipizzaner-Stute auf sie zuhielt.
    »Dobro jutro!« Mit einem leichten Ruck am Zügel kam das Pferd fünf Meter vor ihr zu stehen, und Pina wunderte sich über die Männerstimme, die sie von einer Person im Damensitz nicht erwartet hatte. Die nächsten Worte auf slowenisch verstand sie nicht. Gewiß würde sie, wenn sie noch lange in Triest bleiben müßte, im Gegensatz zur Mehrheit der italienischsprachigen Städter diese Sprache lernen, doch noch hatte sie die Hoffnung auf den Süden nicht verloren. Sie zuckte hilflos mit den Achseln und ließ endlich ihre gereckten Fäuste sinken.
    Der Reiter lächelte mitleidig. »Ist alles in Ordnung?« fragte er dann auf italienisch.
    Pina wunderte sich, worüber er lächelte. Weil sie ziemlich dämlich dagestanden hatte in ihrer Kampfposition auf der Wiese? Weil ihre Ferse mit einem völlig durchbluteten Taschentuch nur lausig verbunden war? Oder einfach aus Überlegenheit, weil sie die Sprache der Menschen diesseits der Grenze nicht beherrschte, diese aber sehr wohl das Idiom ihrer Nachbarn?
    »Ich habe Sie aus der Ferne auf dem Heuhaufen gesehen. Sie brüllten wie am Spieß. Ich dachte, ich sehe einmal nach.«
    »Der Hund?« fragte Pina und sah sich lauernd um. »Gehört der Ihnen?«
    »Ich habe keinen Hund gesehen. Sind Sie verletzt? Brauchen Sie Hilfe?« Der Mann war etwas jünger als sie, hatte einen auffallend blassen Teint und trug sein blondes Haar, als würde er den gleichen Friseur wie sie aufsuchen. Zweimal mit den Händen über den Kopf gestrichen, und man war perfekt. Sein Italienisch war akzentfrei, und die Art, wie er sich ausdrückte, machte klar, daß er aus gutem Hause kam.
    Pina winkelte das Bein an. »Ich kann mit dieser Wunde nicht Fahrrad fahren. Wenn ich es wenigstens bis zum nächsten Dorf schaffen könnte.«
    »Ich kann nicht absteigen«, sagte der junge Mann. »Aber vielleicht können Sie sich hochziehen.« Er gab dem Pferd ein Kommando, damit es sich der kleinen Frau näherte. »Ich bringe Sie zu uns nach Hause und rufe einen Arzt aus der Nachbarschaft, damit er sich ihren Fuß ansieht. Schaffen Sie es hoch? Das Pferd ist die Ruhe selbst, keine Angst.«
    Mit einem wenig eleganten Sprung gelang es Pina aufzusitzen. »Und was ist mit meinem Fahrrad?« fragte sie, als sie auf der Kruppe saß. Jetzt erst sah sie, daß der Mann im Damensitz am Sattel festgebunden war. Seine Beine waren dünner als ihre Arme und hingen kraftlos über das Seitenblatt aus sorgfältig gepflegtem schwarzem Leder.
    »Ich laß es gleich holen«, sagte der junge Mann, der ihrenBlick bemerkt hatte, und gab dem Pferd einen Befehl, worauf es sich im Schritt in Bewegung setzte. Er zog ein Mobiltelefon aus der Jackentasche und erteilte einige Anweisungen, die sie nicht verstand. »Ich bin ab dem dritten Lendenwirbel gelähmt«, sagte er schließlich. »Aber mit diesem Pferd bin ich aufgewachsen, und ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, daß eines Tages doch noch ein Wunder passiert. Man kann auf alles verzichten, nur nicht auf die Hoffnung. Vielleicht kann ich irgendwann einmal wieder richtig reiten und muß mich nicht mehr von nichtsahnenden Leuten auslachen lassen, weil ich auf einem Damensattel sitze. Können Sie reiten?«
    Pina verneinte. Als Kind hatte sie in ihrem Heimatort Africó über der kalabresischen Costa dei Gelsomini manchmal auf einem Esel gesessen, dort unten waren die meisten Familien zu arm, als daß Mädchen von Pferden träumen konnten. Man aß das Pferdefleisch, ohne es vorher weichzureiten. »Wie heißen Sie?« fragte sie und versuchte den alltäglichen Polizistentonfall zu
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