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Die Ruhe Des Staerkeren

Die Ruhe Des Staerkeren

Titel: Die Ruhe Des Staerkeren
Autoren: Veit Heinichen
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und sie keinen Dienst hatte, war Giuseppina Cardareto zu einer Fahrradtour aufgebrochen. Und wie immer sonntags, war sie früher als unter der Woche aufgestanden, obgleich es erst zaghaft zu dämmern begann. Wenn sie um sieben Uhr im Sattel saß, dann könnte sie bis Mittag an die einhundertfünfzig Kilometer schaffen, hunderttausendmal ihre Körpergröße. Den Anstieg von ihrer Wohnung im Stadtzentrum Triests, also von Meereshöhe auf den Karst hinauf, wählte sie stets neu. Je nachdem, ob sie sich mehr oder minder in Form fühlte, fielen die Anfangsstrapazen aus. Die Küstenstraße – entlang der jäh ins Meer abfallenden Felsen –, auf der alle unterwegs waren, forderte sie nicht genug. An diesem Morgen im Dezember wähnte Pina sich stärker als Popeye. Den steilen Anstieg der Via Commerciale machte ihr ohnehin kaum einer nach, erst danach, weiter hinauf nach Conconello, an den rot-weiß lackierten Antennenmasten der Mobilfunksender vorbei, begann die Tortur. Ohne abzusteigen, mithechelndem Atem und schweißüberströmt, kam sie Meter für Meter voran. Mehrfach haderte sie mit sich, doch ihr eiserner Wille obsiegte, und nachdem sie schließlich die vierhundertfünfzig Höhenmeter geschafft hatte, strich der Fahrtwind beim Hinabgleiten nach Banne und weiter Richtung Basovizza ihr angenehm übers Gesicht. Den Grenzübergang nach Lipizza durchfuhr sie ohne anzuhalten. Vor Sportlern hatten die Zöllner auf beiden Seiten Respekt – oder Mitleid.
    Drei Jahre war die kleinwüchsige Inspektorin kalabresischer Herkunft inzwischen in Triest und konnte kaum mehr einen Ausflug unternehmen, ohne an Orten vorbeizukommen, an die sie meist mit dem Dienstwagen gefahren war, begleitet vom Geheul der Sirene. Und das, obwohl in der Stadt für ehrgeizige Kriminalisten mit Karriereabsichten meist wenig zu tun war. Gewiß, eine kühl inszenierte Einbruchserie in die Villen der Oberschicht dominierte seit geraumer Zeit die Titelseiten der Tageszeitungen, und der erneute, besorgniserregende Anstieg illegaler Einwanderung bereitete Kopfzerbrechen, doch Ermittlungen in Mordsachen ließen nach Pinas Geschmack zu wünschen übrig. Hier geschahen große Dinge hinter den Kulissen, die kaum einer zu durchdringen vermochte: Die Finanzströme, die durch Triest flossen, hielten die Kollegen von der Guardia di Finanza in Atem, die auch mit illegalen Einfuhren im Hafen oder entlang der Grenzübergänge beschäftig waren. Wenn jemand ins Jenseits befördert werden mußte, dann vermieden es die Drahtzieher, dies hier in der Stadt erledigen zu lassen. Damit hatten dann die Kollegen an anderen Orten ihre Last. Pina konnte in den letzten eineinhalb Jahren nur einen Mordfall selbständig bearbeiten, den der Kommissar ihr ohne Zögern überlassen hatte und der ihres Erachtens symptomatisch war für die ganze Gegend. Ein Vierundachtzigjähriger erdolchte seine einundneunzigjährige Nachbarin und verständigte anschließend selbst die Behörden. Von Ermittlung keine Spur, Pinahatte sich nur Papierkram aufgehalst, das Vernehmungsprotokoll des Geständigen sowie die Zeugenaussagen in den Computer getippt und an den Staatsanwalt weitergeleitet. Das war’s. Der rüstige Greis kam nicht einmal in den Knast, sondern wurde unter Hausarrest und psychiatrische Betreuung gestellt, da kaum damit zu rechnen war, daß er zum Serienkiller würde. Er lachte sogar über das Urteil, denn in der Nachbarwohnung herrschte nun das, was ihm fehlte, als er zum Messer gegriffen hatte: Ruhe. Da blieb man doch gerne zu Hause in den eigenen vier Wänden.
    Während ihres letzten, wirklich spektakulären Falls war sie knapp einem Disziplinarverfahren entkommen, nur die Absprache mit dem Kommissar, ihrem Vorgesetzten, rettete sie. Keine Widersprüche, in die sie sich vor dem Untersuchungsausschuß verwickelten. Am Ende blieb es bei einer Ermahnung, die nicht in ihre Personalakte eingetragen wurde. Und obwohl der Fall, der die Triestiner Sicherheitskräfte über Jahre beschäftigt hatte, nun ein für alle Mal erledigt war, erhielt sie trotzdem keine Punkte, die ihre Karriere beschleunigten. Pinas Hochmut allerdings hatte einen schweren Dämpfer erfahren, ihre Absicht, so schnell wie möglich zurück in den Süden versetzt zu werden, behielt sie inzwischen für sich. Es war höchst angeraten, eine Zeitlang Demut zu zeigen. Selbst ihre schwarzen Haare trug sie nicht mehr als widerborstige Igelfrisur, sondern inzwischen in einer Länge, die ihre Weiblichkeit wenigstens eine Spur
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