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Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman

Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman

Titel: Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
Autoren: Inez Corbi
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Kelling.«
    Sie trank einen Schluck. Es schmeckte säuerlich und ein wenig fruchtig.
    Kelling lächelte sie an. »Nun, wenn wir schon auf die englische Königin trinken, sollten wir auch weitere englische Gepflogenheiten annehmen. Ab jetzt heißt es ›Mister Kelling‹. Und mit wem habe ich die Ehre?«
    »Lina«, sagte Lina schüchtern. »Karolina Salzmann.«
    »Sehr erfreut, Miss Salzmann.« Er deutete auf das Buch in ihrer linken Hand. Mit der rechten hielt sie das Weinglas. »Ich sehe, Sie tun bereits etwas für Ihre Bildung. Darf ich einmal sehen?«
    Lina reichte ihm das Buch. Sie schämte sich, weil der Einband bereits so zerfleddert war.
    »›Der richtig sprechende Amerikaner‹«, las Herr – nein, Mr Kelling den Titel vor. »›Gründliche Anweisung, in kurzer Zeit die englische Sprache zu erlernen.‹ Woher haben Sie das?«
    »Von meinem Vater. Er … er war Schulmeister. Und er wollte immer nach Amerika, aber er ist vor ein paar Monaten gestorben.« Wie gut es tat, über ihn zu reden, selbst hier, vor diesem ihr fast fremden Menschen. Ohne es zu wollen, traten ihr Tränen in die Augen.
    Mr Kelling sah sie mitfühlend an. »Und nun reisen Sie allein nach Neuseeland?«
    Lina nickte. »Mit meiner Schwester Friederike hier.« Sie deutete auf Rieke neben sich.
    »Ich finde das sehr mutig von Ihnen. Lernen Sie nur schön weiter, Miss Salzmann.« Er gab ihr das Buch zurück. »Schulmeister war Ihr Vater, sagen Sie? Was halten Sie davon, eine kleine Schule an Bord zu eröffnen? Viele der Kinder würden es sicher begrüßen, wenn sie sich die ungenutzte Zeit mit etwas Sinnvollem vertreiben könnten.«
    Lina sah ihn erschrocken an. »Ich? O nein, Mr Kelling, ich glaube nicht, dass ich das kann.« Vor lauter Schreck trank sie hastig ihr Glas aus.
    »Aber natürlich können Sie das. Es geht ja nur um ganz einfache Sachen. Sehen Sie, die meisten dieser Kinder können nicht einmal das Alphabet. Wie wäre es, wenn Sie damit anfangen würden? Und später vielleicht ein paar einfache englische Vokabeln?« Er lächelte. »Wir alle müssen uns schließlich mit der englischen Sprache anfreunden. Nehmen wir zum Beispiel meine Vornamen: ›Johann Friedrich‹ wird kaum ein Engländer aussprechen können. Was halten Sie von John Frederick? Noch besser allerdings gefällt mir Fedor. Ja, ich denke, so werde ich mich nennen. Fedor Kelling.«
    Lina überlegte kurz, dann nickte sie. »Das hört sich gut an. Muss ich mich auch umnennen?«
    »Das liegt ganz bei Ihnen. Ich an Ihrer Stelle würde allerdings nichts an Ihrem schönen Namen ändern.« Er nahm das geleerte Glas wieder in Empfang. »Miss Salzmann, es hat mich sehr gefreut. Wir werden sicher noch öfter das Vergnügen haben. Und überlegen Sie sich das mit der Schule. Ich bin Ihnen gern behilflich.« Er lüftete seinen Zylinder und wandte sich zum Gehen.
    »Er ist nett«, sagte Rieke neben ihr und stupste ihre große Schwester an. »Aber alt.«
    Lina sah ihm nach. Eine Schule an Bord? Und sie sollte unterrichten? Ihr war ein wenig schwindelig, wahrscheinlich vom Wein, dennoch fühlte sie sich plötzlich sehr erwachsen. Vor ihr glitten die weißen Klippen Englands vorbei.
    Lina lag mit offenen Augen auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit. Neben ihr, dicht an sie gedrückt, schlief Rieke. Die vielen Geräusche, die am Tag das Zwischendeck erfüllten, verstummten selbst nachts nicht völlig. Das an den Rändern der Kojen aufgehängte Geschirr klapperte leise. Lina lauschte dem Schnarchen und dem schweren Atmen der Schlafenden. Da vorne hustete jemand zum Gotterbarmen. Weiter hinten schien sich gerade einer zu übergeben. Aus einer Koje über den Gang hinweg hörte sie das unterdrückte Stöhnen zweier Liebender. Frau Gebart drei Reihen neben ihr saß in ihrer Koje und stillte ihr Neugeborenes. Irgendwo schrie ein Kind, dann fing auch ein zweites an. So ging es jede Nacht. Irgendjemand war immer wach, lief herum, benutzte den Eimer.
    Als gestern bei der hochschwangeren Maria Gebart die Wehen eingesetzt hatten, hatte Lina zum ersten Mal eine Geburt miterlebt. Nur notdürftig von ein paar aufgespannten Handtüchern abgedeckt, hatte jeder im Zwischendeck das Schreien, Stöhnen und Hecheln der Gebärenden mitbekommen, bis endlich am frühen Morgen der erlösende Schrei eines Neugeborenen ertönt war.
    »Ein Junge!«, hieß es nach kurzer Zeit. »Sie hat einen Jungen bekommen!«
    Der Säugling, der den Namen Adolph Hermann Carl bekam, war das dritte Kind der Familie Gebart.
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