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Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman

Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman

Titel: Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
Autoren: Inez Corbi
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Heimat als ein grünes, herrlich fruchtbares Land zeigten, mit sanften Hügeln und kleinen Wäldern. Vor einem guten Jahr war bereits ein Schiff mit deutschen Auswanderern nach Nelson gesegelt.
    Was Rieke wohl an Deck tat? Sie klappte das Buch zu und ging nun ihrerseits nach oben an die frische Luft.
    An Deck drehte sie sich einmal um sich selbst, doch sie konnte ihre kleine Schwester nirgends sehen. Wo war sie nur? Das Entsetzen schoss ihr eiskalt in die Glieder, als sie sich vorstellte, dass Rieke womöglich über Bord gefallen war und nun –
    »Rieke?!«
    »Huhu! Lina, hier oben!« Linas Blick folgte dem Ruf. Und dann blieb ihr fast das Herz stehen: Etliche Meter über ihrem Kopf turnte ihre Schwester zusammen mit zwei Schiffsjungen in der Takelage herum.
    Linas Knie wurden plötzlich so weich, dass ihr die Beine versagen wollten. »Rieke! Komm sofort da runter! Auf der Stelle!« Sie selbst hatte die Höhe noch nie vertragen. Allein die Vorstellung, dort oben herumzuklettern, ließ ihr den kalten Schweiß ausbrechen.
    Bebend wartete sie, bis ihre Schwester wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
    »Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, fuhr sie sie an, als Rieke endlich sicher an Deck stand. »Du hättest herunterfallen können!«
    »Aua!«, heulte Rieke auf. Linas Hand brannte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie ihrer kleinen Schwester eine Ohrfeige gegeben. »Nie darf ich was! Hans klettert auch in den Wanten herum. Und …«
    »Hans ist auch ein Schiffsjunge! Und du bist kein Junge, sondern ein Mädchen, aus dem hoffentlich einmal eine junge Dame wird. Was sollen denn die Leute von dir denken?«
    »Das sagst du nur, weil du dich nicht selber traust!« Rieke schluchzte auf. »Ich wäre viel lieber ein Junge! Jungen dürfen klettern und rennen. Und fluchen.«
    »Ich weiß. Das Leben ist ungerecht.« Lina seufzte und strich Rieke durch das helle, zerzauste Haar. Nicht zum ersten Mal wünschte sie, der Vater wäre hier und könnte ihr beistehen.
    Lina hatte tatsächlich eine kleine Schule eröffnet. Meist saß sie mit ihren Schülern im Zwischendeck unterhalb der offenen Ladeluke in einer kleinen Ecke, die sie stets erst von Gepäck freiräumen mussten. Zwischen zehn und zwanzig Kinder fanden sich fast jedes Mal zusammen – wenn auch nicht immer dieselben. Mithilfe einer kleinen Schiefertafel, die ihr Mr Kelling geliehen hatte, brachte Lina den Kleinsten das Alphabet und den Größeren Lesen, Rechnen und erste englische Grundbegriffe bei. Und manchmal kam es sogar vor, dass sich auch der ein oder andere von den Erwachsenen dazusetzte und ihrem Unterricht folgte.
    Mehr als drei Monate waren sie nun schon unterwegs; allein einen ganzen Monat im Indischen Ozean. Inzwischen konnte Lina das eingelegte Sauerkraut, die dünne Suppe und den faden Schiffszwieback nicht mehr sehen. Den Zwieback musste man sogar ausklopfen, damit man keine Maden mitaß. Sie sehnte sich nach einem Stück frischem Obst oder auch nur nach Kartoffeln und konnte es kaum erwarten, endlich wieder an Land entlangzulaufen.
    Die Chancen dafür standen gut. Günstige Winde ließen die Skjold schnell vorankommen, und bald kam das erste Mal seit langer Zeit wieder Land in Sicht: Van-Diemens-Land, eine große Insel an Australiens Südküste. Mr Kelling hatte ihr erzählt, dass viele Sträflinge aus England und Irland hierher und nach Australien deportiert worden waren, wo sie dann Zwangsarbeit verrichten mussten und beim geringsten Vergehen die Peitsche zu spüren bekamen. Lina schauderte es bei dieser Vorstellung. Sie selbst war wenigstens freiwillig hier.
    »Land in Sicht!«
    Die Stimme des Matrosen im Ausguck überschlug sich fast. Jetzt gab es kein Halten mehr. Fast jeder der Zwischendeckpassagiere eilte an Deck, jubelnd, freudestrahlend, begierig, einen ersten Blick auf die neue Heimat zu werfen. Auch die beiden Mädchen erkämpften sich einen Platz an der Reling, drängten sich zwischen verschwitzte Körper und starrten hinaus aufs türkisfarbene Meer. Ganz hinten am Horizont konnte Lina einen dunkelblauen Streifen ausmachen. War das endlich Neuseeland?
    »Lina, sieh nur!« Rieke wies aufgeregt unter sich, wo ein grauer Buckel mit runder Rückenflosse das Wasser durchschnitt. Weitere Tiere folgten.
    »Delfine!«, rief jemand an Deck aus.
    Es wurden immer mehr. Mehrere Dutzend kleiner Delfine mit hellem Körper und dunklem Rückenstrich tummelten sich im Wasser um die Skjold , tollten herum wie junge Hunde und streckten das
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