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Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman

Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman

Titel: Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
Autoren: Inez Corbi
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Größen stapelten sich, aber noch wurden die wenigen Karren benötigt, um die restlichen Passagiere von den Booten ans Ufer zu befördern. Gerade wurde ein großer Schrank durch das knietiefe Wasser gefahren; zwei Passagiere hielten ihn seitlich fest, damit er nicht hinunterfiel. Die Menschen waren vergnügt, alle lachten und freuten sich – darüber, dass die lange Reise endlich vorüber war, über das schöne Wetter und die ansprechende Umgebung, auf die neue Herausforderung.
    Lina stellte ihre Reisetasche hin und setzte sich auf eine niedrige Steinmauer. Ihr Schuh und der Saum ihres Rocks waren immer noch nass, und ihr knurrte der Magen. Heute Morgen hatte sie vor lauter Aufregung kaum einen Bissen herunterbekommen. Die Flut von neuen Eindrücken überwältigte sie schier. Die vielen Menschen, die seltsame englische Sprache, die in ihren Ohren so ganz anders klang, als sie sich vorgestellt hatte, das neue, fremde Land – für einen Moment sehnte sie sich tatsächlich zurück in die stickige, aber vertraut gewordene Enge auf dem Schiff. Doch genauso schnell, wie er gekommen war, verging dieser Moment auch wieder. Sie war angekommen. Sie war endlich in Neuseeland. Jetzt würde alles gut werden.
    Sie beugte sich vor, löste die Bänder, die ihren flachen Schuh hielten, und zog ihn aus. Auch ihr Strumpf war feucht – und hatte ein Loch am großen Zeh, wie Lina peinlich berührt feststellen musste. So unauffällig wie möglich löste sie ihr Strumpfband, zog auch den Strumpf aus, presste das Wasser heraus und zog ihn wieder an.
    Eine leichte Brise wehte vom Wasser und brachte den Geruch von Algen und Fisch mit sich. Sie hörte ein ungewohntes Geräusch und hob den Kopf: Auf einem Ast ganz in ihrer Nähe saß ein schwarzer Vogel, der ein auffälliges weißes Federbüschel am Hals trug – fast wie den Knoten einer kunstvoll gebundenen Krawatte. Er zwitscherte, piepste und krächzte mit so viel Inbrunst, dass Lina lächeln musste.
    Heute hatten sie den zweiten September. Das entsprach hier – Lina zählte sechs Monate zurück – dem zweiten März. Frühlingsanfang also. Hier, auf der anderen Seite der Erdkugel, waren auch die Jahreszeiten umgedreht. Im Frühling waren sie von Deutschland aus aufgebrochen und im Frühling waren sie in Neuseeland angekommen. Fast, als hätte es die lange Reise gar nicht gegeben.
    Immer mehr Passagiere brachen nun auf. Lina zog sich den feuchten Schuh wieder an und erhob sich. »Ich denke, wir sollten auch – Rieke?«
    Ihre Schwester war verschwunden. Die Angst schoss heiß durch Linas Adern. Wo war sie? Wenn ihr etwas zugestoßen war …?
    Ihre Sorge war unbegründet: Einer der Auswanderer hatte ihre Schwester die Straße entlanglaufen sehen, dem kleinen Flüsschen nach, das zwischen den Häusern verschwand. Na, die konnte was erleben! Wütend nahm Lina ihre Reisetasche auf und marschierte in die angegebene Richtung. Immer musste man auf Rieke aufpassen! Sie konnte doch nicht einfach fortgehen. Vor allem nicht hier, in diesem fremden Land.
    Lina passierte einen kleinen Friedhof, auf dem bereits einige Grabsteine standen. Am gegenüberliegenden Ufer sah sie zwei Siedler, die dabei waren, auf einer abgesteckten Parzelle den dichten Farn zu roden, der hier überall wuchs. Neben ihnen türmte sich bereits ein gewaltiger Haufen der grünen Wedel.
    Sie fand ihre Schwester in einer umzäunten Fläche, einem Garten ähnlich, in dem hohes Gras wucherte. Die kleine Tür in dem Zaun aus geflochtenen Zweigen stand offen. Nahe am Zaun wuchsen etliche niedrige Himbeerbüsche. Schon jetzt zeigten sich dort die ersten weißen Blüten zwischen den feinen, haarähnlichen Stacheln.
    Rieke winkte, als sie Lina sah. In ihren Händen hielt sie einen Kranz aus bunten Frühlingsblumen.
    »Für dich!« Mit beiden Händen setzte sie Lina den zarten Kranz auf den Kopf. »Jetzt siehst du aus wie eine Prinzessin. Und ich bin auch eine Prinzessin. Los, du musst mich fangen!« Rieke breitete die Arme aus und lief los.
    Lina vergaß, dass sie Rieke eigentlich zurechtweisen wollte, ließ die Tasche ins hohe Gras sinken, raffte ihren langen Rock und rannte ihr hinterher. Sie übersah, dass unter ihren Schritten kleine Sträucher umknickten. Es tat so gut, wieder einmal zu rennen, sich die Beine zu vertreten und ausgelassen zu lachen.
    Jauchzend drehte sie sich um ihre eigene Achse und wollte dann weiterlaufen, als sie gegen etwas prallte. Oder gegen jemanden. Erschrocken und schwer atmend blieb sie stehen.
    Vor ihr
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