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Der Duft des Sussita

Der Duft des Sussita

Titel: Der Duft des Sussita
Autoren: Robert Scheer
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DER DUFT DES SUSSITA
    Der einzelne wird bei uns weder zwischen den Mühlsteinen des Kapitalismus zermalmt, noch von sozialistischer Gleichmacherei geköpft. Wir kennen und schätzen die Entwicklung des Individuums, so wie wir seine wirtschaftliche Basis, das Privateigentum, respektieren und schützen. – Theodor Herzl, »Altneuland«
    Im Jahr 1986, welches nach unserem, dem jüdischen Kalender das Jahr 5746 ist – denn es war vor 5746 Jahren, als für uns nicht weniger als die ganze Welt erschaffen wurde –, also, im Jahr 1986 war es endlich da, unser allererstes Auto, der Sussita, der nicht nur für uns selbst, sondern für das ganze Land die Welt bedeutete. Weiß und groß. Es stand vor unserem Haus. Wir schauten aus dem Fenster. Es gefiel uns, was wir sahen. Sehr sogar. Ein Schmuckstück, fanden wir.
    Dies waren die Jahre, als Israel noch an der Weltspitze war. Wir konnten stolz sein, nicht wie heute, damals hatten wir nicht nur die besten Panzer und Gewehre und Soldaten und Bananen und Falafel, sondern auch das beste, oder jedenfalls eines der besten Autos der Welt, den Sussita. Tatsache.
    Nun stand der Stolz der Nation, der Stolz der ganzen jüdischen Religion unbefleckt in all seiner Pracht in unserer Stadt, in unserer Straße, vor unserer Wohnung. Ich bin kein nostalgischer Mensch, aber wenn ich an diese Zeiten zurückdenke, bekomme ich Gänsehaut. Schon lange hatte sich meine Familie nicht mehr so verbunden gefühlt.
    Man konnte ihn, den Sussita, in einem Atemzug mit Mercedes und Toyota und Chevrolet und, ja, mit Jaguar aussprechen. Dies waren Jahre, in denen noch etwas geleistet wurde, ohne viel zu reden.
    Dies waren Zeiten, in denen das Wort noch als Wort galt und das Auto noch als Auto. Nicht wie jetzt. Heute sind wir nicht mehr Weltspitze. Damals waren wir es. Und dazu hatten wir ein Auto. Heutzutage haben wir nicht einmal eigene Autos. Nur importierte Autos. Die meisten aus Japan, aber auch aus Europa und Amerika. Uns bleibt heute nur eines: die Hoffnung. Sonst haben wir nichts mehr.
    Der Sussita stand also buchstäblich vor unserer Tür.
    Er war mit vielen kleinen Wimpeln dekoriert. Wie ein Andachtsobjekt. Ein Kunstwerk. Ein Meisterwerk israelischer Autoingenieure, die dieses Auto jahrelang, vom einfachsten Entwurf auf dem Papier bis zur Vollendung, begleitet hatten. 
    Mir war, als hätte der Sussita mir zugezwinkert, also zwinkerte ich zurück, instinktiv. Hallo. Oder war es bloß ein Sonnenstrahl, der den Sussita traf und mein Auge blendete? Ein Sonnenblitz? Jedenfalls fühlte ich mich für wenige Sekunden, als wäre ich selbst das Auto.
    In diesen fröhlichen Momenten hatten wir alle das Gefühl, die Fähnchen des Sussitas hätten uns willkommen geheißen. Wie die Wellen des Meeres. Es waren schöne Zeiten im Lande von Milch und Honig.
    Die kleinen blau-weißen Fähnchen flatterten wie Schmetterlinge in der heißen Luft.
    Wie der Sussita im Zentrum unserer Blicke, so stand der Davidstern im Zentrum der kleinen Fähnchen, blau und groß. Die kleinen Fahnen mit dem weißen Hintergrund, den zwei blauen Linien und dem Davidstern schmückten das noch ungeöffnete Geschenk. Sie winkten und begrüßten uns. Hallo, Schalom.
    Der Sussita hatte viele Spitznamen: Kanaans Pferd und Samsons Eisenpferd, König Davids Stolz und Israels bewegte Kraft sind nur wenige Beispiele für die Beschäftigung der Israelis während der Wartezeit auf den Sussita.
    Viele Menschen schauten damals fern oder hörten Nachrichten im Radio oder warteten. Nicht auf den Messias, was ja nach so vielen Jahrtausenden fast wie eine Selbstverständlichkeit erschien, nein, man wartete nun auf ein Auto und man musste lange warten und sich gedulden, Geduld, viel Geduld haben, man wartete gleichzeitig auf den Messias und auf den Sussita. Es war ein nationales Warten. Das ganze Land Israel wartete.
    Wie die Dinosaurier sind inzwischen auch die Sussitas ausgestorben. Die Sussitas sind Vergangenheit. Meine Geschichte stammt gleichfalls aus der Vergangenheit. Eine Sussita-Geschichte. Eine gescheiterte Geschichte. Mercedes und Porsche haben überlebt. Jaguar und Toyota haben überlebt. Der Sussita konnte die Prüfung der Zeit nicht bestehen.
    An diesem Tag des Jahres 1986 machten wir uns auf, in den Sussita zu steigen.
    Was für ein Motor!, sagte mein Vater und gab Gas.
    Mein Bruder Gabriel bewegte sich unruhig. Er saß auf dem hinteren Sitz neben mir. Er saß hinter unserem Vater, der den Sussita mit aller Hingabe steuerte, während ich hinter
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