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Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle
Autoren: Karla Schmidt
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tief in
den Wahnsinn hineinrutschte, dass sie den Rückweg nicht mehr fand? Falls das zu
diesem Zeitpunkt überhaupt noch möglich war.
    Janina streckte die Beine aus, legte den Kopf in den Nacken, blickte
zur Zimmerdecke hoch. Sie war mit weißen Metalllamellen abgehängt, kaltes
Metall, abwechselnd mit schmalen Neonröhren. Sie zählte die schwarzen Rillen zwischen
den Lamellen. Siebenunddreißig. Die Lampen. Sechs. Dann zählte sie nichts mehr
und ließ die Rillen vor ihren Augen abwechselnd verschwimmen und wieder scharf
werden.
    Man konnte einen Menschen töten, indem man ihn aus großer Höhe
hinabstieß. Man konnte ihn vergiften. Man konnte ihn verwunden. Mit einer
Pistole. Aber sie wusste nicht, woher sie Gift oder Pistole nehmen sollte, und
um ihn irgendwo hinunterzustoßen, musste sie ihn erst einmal hinaufbekommen.
    Der Gedanke mit der Schere war an sich richtig gewesen. Nur dass
eine Schere zu stumpf und zu dick war. Sie brauchte ein scharfes Messer. Damit
würde sie es schaffen. Vorausgesetzt, dass er sich nicht wehrte. Wenn er sich
wehrte, würde sie eher sich selbst verletzen. Sie hatte nicht die geringste
Erfahrung mit Messerstechereien, und die Vorstellung, dass er ihr das Messer
wegnehmen, es gegen sie richten konnte, machte den Gedanken fast ebenso unmöglich
wie eine Schießerei. Wie konnte sie Dave also dazu bringen, sich nicht zu
wehren?
    Â»Mensch, erklär es ihm doch einfach«, sagte sie halblaut. »Hat er
bestimmt Verständnis für.«
    Janina lachte freudlos.
    Aber so falsch war der Gedanke auch wieder nicht. Wenn er wüsste,
worum es ging, wenn er wüsste, dass es um das Leben seines Sohnes ging? Sie
müsste es ihm vielleicht wirklich nur sagen.
    Nein. Die Anweisungen waren eindeutig.
    Maul halten.
    Janina schloss die Augen, ihr Nacken war steif, und in ihren
Schläfen pulsierte das Blut. Sie hörte auf zu denken, und als sie wieder damit
begann, hatte sie keine Ahnung, wie lange sie so gesessen hatte, bewegungslos.
    Angenommen, es gelang ihr zu tun, was verlangt wurde. Wie ging es
dann weiter? Warum hatten sie ihr das nicht gesagt?
    Sie musste lange genug unbehelligt bleiben, um Simon
wiederzubekommen, um ihn nach Hause zu bringen. Sie durfte es nicht so machen,
dass es Zeugen gab. Sie musste es so machen, dass sie Zeit gewann. Zeit, ihren Sohn
in Sicherheit zu bringen. Was danach geschah, war nebensächlich.
    Als sie die Augen das nächste Mal öffnete, war es finster im Zimmer,
der Tag – Simons Geburtstag – war zu Ende gegangen, ohne dass sie gemerkt
hätte, dass Zeit verstrichen war. Zugleich kam es ihr vor, als hätte sie seit
Äonen hier gesessen und nichts weiter getan als zu atmen.
    Und dann erkannte sie die Lösung direkt über sich an der
Zimmerdecke. Schwarze Linien auf Weiß, wie das Linienpapier in Simons
Mitteilungsheft, als er eingeschult worden war.
    Janina war ruckartig auf den Füßen. Sie brauchte Papier. Einen
Spaten, vielleicht in der Werkstatt. Plane. Messer. Lampe hatte sie selbst mit.
Einen Rucksack. Klebeband vielleicht. Handschellen. Auch in der Werkstatt.
Hoffentlich waren sie noch da. Wenn ja, dann war es ein Kinderspiel. Eine
Schnitzeljagd.
    Janina hatte das Gefühl, auf Autopilot zu laufen. Sie musste nicht
mehr darüber nachdenken, was sie tat oder wie sie es tat. Alles kam als
Eingebung von oben, ein Geschenk des Himmels. Sie handelte nicht mehr, sie war
nur noch Werkzeug im Dienst einer höheren Sache. Janina verließ ihr Zimmer,
rannte in die Kostümabteilung und riss eine Seite aus ihrem Buch mit den
Skizzen, Maßen und Materialien.
    Wir haben Deinen Sohn. Wenn Du ihn wiederhaben willst:
Heute Nacht, 2:00 Uhr. Friedhof Bergmannstraße, Nordseite. Dort ist ein offenes
Grab. Und: Maul halten.
    Janina blickte auf den Zettel, den sie geschrieben hatte, blickte
auf die Handschrift einer komplett fremden Frau. Das hatte nicht sie
geschrieben. Sie war nur der Kanal, ein Werkzeug des Lebens. Oder des Todes. Je
nachdem, von welcher Seite aus man es sehen wollte.
    Diesmal rannte sie nicht. Sie bewegte sich vorsichtig, sie durfte
nicht gesehen werden, schob den Zettel unter Daves Tür hindurch und verschwand,
so leise sie konnte.
    Der zweite Zettel musste in den Rucksack, auf den Friedhof.
    Und dann kam der Rest.
    Â»Davey, ach Dave.«
    Simon hörte DeeDees Lallen und das Glucksen der Flasche wie durch
eine dicke Schlickschicht, die alles dämpfte, was
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