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Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle
Autoren: Karla Schmidt
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Vorsichtig
blickte Simon sich um. Trotz der Dunkelheit war er sich sicher, dass er
wirklich allein war. Je länger er wartete, desto wahrscheinlicher wurde es, dass
DeeDee zurückkam. Er wusste nicht, wie weit die Nacht fortgeschritten war, ob
es eben erst dunkel geworden war oder ob die Morgendämmerung kurz bevorstand.
Ob er acht Stunden Zeit hatte oder vielleicht nur acht Minuten. Ob sie zum
Schlafen in den Flughafen gegangen war, oder ob sie sich nur am Teich die Beine
vertrat. Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste: Wenn DeeDee das nächste Mal
zu ihm kam, würde er sterben. Und er wollte nicht sterben. Jetzt, wo er merkte,
dass er sich trotz all des Grauens in seinem Körper immer noch aufhalten
konnte, dass er ihn immer noch bewohnte, wollte er ihn nicht mehr aufgeben. Es
war seiner! Nur seiner!
    Simon rollte sich auf die Seite, zog die Knie an, stützte einen
Ellenbogen auf. Vier Versuche, um auf die Knie zu kommen, dann rutschte er
hinüber zu der morschen Bretterwand und presste die Schulter dagegen, spürte,
wie sie nachgab und zurückfederte. Er musste auf die Füße kommen, wenn er genug
Druck entwickeln wollte.
    Späne schoben sich in seinen Rücken, als er sich an der Wand
hocharbeitete, aber er achtete nicht darauf. Achtete nicht darauf, dass seine
Füße sich anfühlten wie zum Platzen gefüllte Wasserballons. Er war oben. Warf
sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Wand. Er musste
jetzt hier raus!
    Dave kam pünktlich, er rannte. Das weiße Licht seiner Taschenlampe
zuckte durch die Bäume, und Janina presste sich an den Stamm einer dicken
Eiche, damit es sie nicht traf. Ihre Wange lag auf der rauen Rinde, schmiegte,
drückte sich daran. Sie wünschte, sie hätte das Leben in diesem Baum spüren,
hätte den Saft fließen hören können. Aber der Baum fühlte sich starr und tot
an. Janina bewegte sich nicht. Sie lauschte Daves unregelmäßigen Schritten,
seinem Stolpern. Er weinte.
    Janina weinte auch, aber viel leiser. Sie fühlte es in ihrer Brust
und auf den Wangen. Sie schmiegte sich noch enger an den Baum, verschmolz mit
ihm, so gut sie konnte, schloss die Augen. Sie würde sich erst wieder bewegen,
wenn es so weit war.
    Dann ein Poltern, ein Prasseln.
    Janina spähte vorsichtig hinter dem Stamm hervor. Dave war mit den
Beinen in ihre Grube gerutscht, strampelte sich wieder hinaus.
    Und wenn er aus Versehen den Rucksack mit Erde bedeckt hatte? Dann
würde er ihn nie finden. Es gab so vieles, was schiefgehen konnte, so vieles,
was sie nicht bedacht hatte. Leuchte in die Grube hinein, sagte sie stumm.
Schau hinein.
    Stattdessen ging Dave um den Grabstein herum, leuchtete zwischen die
Bäume, das Licht streifte dicht an Janina vorbei, traf sie aber nicht. Die
Kirchturmuhr schlug zwei, und als der Klang verhallt war, drang Daves
Schluchzen zu ihr herüber. Aus der Kehle, die sie so geliebt hatte. Diesen breiten,
geraden Hals, der, wenn er den Kopf im Tanz zwischen zwei Schlägen schnell zurückwarf,
zugleich seine ganze Verletzlichkeit und seine ganze Kraft offenbarte. Eine
Kehle, für die sie jetzt nichts mehr fühlte als den Widerwillen, den sie gegenüber
Josefs Schweinehäuten entwickelt hatte.
    Liebte sie Dave? Wie oft hatte sie sich in den letzten Tagen diese
Frage gestellt. Und war immer zu unterschiedlichen Antworten gekommen. In
diesem Moment war sie sich sicher: Sie liebte ihn nicht. Hatte ihn auch nie
geliebt. Sie hatte ihn nur gebraucht, um sich selbst zu vergessen. Um sich
nicht zu fühlen. Das war jetzt vorbei. Sie konnte sich nicht mehr ausweichen,
würde es nie mehr können. Sie würde Simon in Sicherheit bringen und sich dann
stellen.
    Der Gedanke an Simon gab ihr die Entschlossenheit zurück. Sie
wusste, was zu tun war. Es bedeutete, dass Simon Schaden nehmen würde, er würde
Narben davontragen. Er war entführt worden, und es war ihre Schuld, und er
würde eine Mörderin als Mutter haben. Aber er würde leben.
    Plötzlich blieb Dave stehen, den Oberkörper leicht nach vorn
gebeugt, als ob er Schmerzen hätte. Der Gedanke, dass er aus genau demselben Grund
hier war wie sie – um seinen Sohn zu retten –, traf sie wie ein Schlag. Wieder
kam solch eine unwillkommene Welle der Zuneigung und überschwemmte sie mit
Mitgefühl und dem Wissen, dass sie es unmöglich tun konnte. Sie hatte als
Mutter versagt. Nun war es Zeit, dass Dave seine Chance
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