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Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle
Autoren: Karla Schmidt
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Tempelhof schon ewig dauerte. Zwischen ihren Füßen und auf der Sitzbank
gegenüber stand das Gepäck. Viel Gepäck. Sie hatte den größten Teil der Kostüme
dabei. Rost hatte ihr die Maße der Tänzer per E-Mail nach Vancouver durchgegeben,
und sie hatte mit ihm die Entwürfe durchgesprochen, sodass sie bereits vorab
das meiste fertig hatte. Lauter weißes Gewalle, bei dem im Eifer des Gefechts
so manche Männer- und Frauenbrust freigelegt werden würde. Eigentlich würde
daran nichts weiter zu tun sein als hier und da ein bisschen abnähen, kürzen.
Sehr viel bügeln. Und zwischendurch immer wieder flicken, bei den zarten
Stoffen.
    Das Einzige, was noch fehlte, waren die Schuhe und die
Schweinehäute. Sie hatte noch nicht ausprobiert, wie sie damit am besten
arbeiten konnte, und war auch nicht besonders versessen darauf. Immerhin hatte
sie in letzter Minute einen Bauernhof im Berliner Umland gefunden, der die
unversehrten Häute täglich frisch liefern konnte. Nicht gerade billig. Aber in
Tierfabriken bekamen sie so etwas erst gar nicht, und es hätte Janina auch widerstrebt.
Obwohl es wahrscheinlich keinen Unterschied machte. Getötet wurden die Viecher
ja allemal.
    Sie würde die Häute vorab perforieren müssen. Hoffentlich spielten
die Tänzer mit. Die Vorstellung, sich eine kalte, fettige, tote Schweinehaut
über die eigene, warme, nackte Haut zu stülpen, sich darin einnähen zu lassen …
Janina schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Und wach zu bleiben.
    Sie hatten einen dreizehnstündigen Flug hinter sich, dann das
Auschecken, das Warten, bis sie ihr Gepäck bekamen, der Weg vom äußersten Rand
Berlins bis in den Innenstadtring … Janina hatte sich noch nie so sehr auf
heißes Wasser auf ihrer Haut, kühle Wäsche und ein eiskaltes Bier ohne bitteren
Schaum gefreut. Und auf ein Hotelbett, den Duft eines frisch bezogenen Kissens,
das Rascheln der Decke dicht am Ohr, und dann versinken … Wenn sie ehrlich war:
Sie freute sich nur auf das Hotelbett.
    Alles andere gehörte lediglich zum guten Ton. Man machte sich
frisch, tat so, als könnte einen nichts aus den Socken hauen, trank noch etwas
zusammen und berichtete von seinen letzten Erfolgen. Dann fiel man einander in
die Arme, steckte die Reviere neu ab, verbrüderte sich, damit man es die
nächsten Wochen oder Monate miteinander aushielt, und dann erst sank man
übermüdet und halb besoffen ins Bett. Und begann am nächsten Morgen nach einem
Kantinenfrühstück mit saurem Kaffee viel zu früh mit der ersten Disposition.
Viel schöner wäre: einfach nur schlafengehen. Die Tänzer, die Bühnenleute,
Techniker, Josef Rost – die würde sie auch morgen noch früh genug sehen. Und
wozu eigentlich heute noch duschen? Sie war schließlich allein im Bett.
    Die U-Bahn ruckte erneut, und Janina schreckte aus ihrem
Dämmerzustand hoch. Ihre Augen brannten, wahrscheinlich hatte sie minutenlang
vor sich hingestarrt und zu blinzeln vergessen. Das passierte ihr oft auf
Reisen, besonders auf Langstreckenflügen fiel sie in eine Art Trance, die vom
Schlafmangel kam. Trotz Schlaftabletten, Notfalltropfen, Schlafmaske, autogenem
Training, was auch immer, war es Janina unmöglich, ein Auge zuzutun.
    Das hatte nichts mit Flugangst zu tun. Es lag an den zu schmalen
Sitzen, die einem eine unentwegt verkrampfte Sitzhaltung aufzwangen, wenn man
nicht mit dem Sitznachbarn auf Tuchfühlung gehen wollte. Oder mit einem fünfzehnjährigen
Sohn, der jede Berührung durch seine Mutter sorgfältig vermied.
    Wenn Janina noch so schlank gewesen wäre wie vor sechzehn Jahren,
wäre es ihr leichter gefallen, ihre Ellenbogen bei sich zu behalten und sich
trotzdem zu entspannen. Dann hätte sie vielleicht schlafen können. Aber so war
sie gezwungen, die Arme praktisch den gesamten Flug über vor der Brust
verschränkt zu halten. Wenigstens in der U-Bahn konnte sie sich ausbreiten.
Natürlich drohte die Müdigkeit genau jetzt, sie endlich zu übermannen. Sie
waren fast da, sie hatte Platz, die Anspannung fiel ab. Janina unterdrückte ein
Gähnen und warf erneut einen Blick zu Simon hinüber.
    Der starrte unverändert aus dem Fenster in das vorbeirauschende
Schwarz des U-Bahnschachtes. Seine schmalen Jungenschultern waren in letzter
Zeit breiter geworden, sein nussbraunes Haar färbte er schwarz, umrandete auch
die
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