Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle
Autoren: Karla Schmidt
Vom Netzwerk:
Augen schwarz, und er trug seit Neuestem enge Hosen, die seine langen,
muskulösen Beine zur Geltung brachten. Simon war verdammt hübsch geworden, und
Janina war sich sicher, dass sich hinter seiner mürrischen Teenager-Fassade
irgendein großes Talent oder eine Tiefe verbarg, die er erst noch entdecken
musste. Rein optisch wäre man wohl nicht auf die Idee kommen, dass er
ausgerechnet Janinas Sohn war. Sie selbst hatte feines, weißblondes Haar –
Babyhaar. An guten Tagen fand sie sich üppig, und an Tagen, an denen sie
stundenlang in Flugzeugen ausharren musste, bloß fett. Ihre Nase war groß und
gerade. Simons Nase war schmal, seine Haare so dicht, dass jedes Mädchen ihn darum
beneidete. Sie hätte gerne seine Schulter berührt, ihn vorsichtig wachgerüttelt.
Aber wozu, warum sollte er nicht ein wenig dösen. Er war genauso erschöpft wie
sie.
    Außerdem war er nicht sehr begeistert von dieser Reise gewesen,
hatte weder Lust auf Berlin noch auf Josef Rost, und sie konnte es ihm
eigentlich nicht verdenken. Sie waren nach Vancouver gezogen, nachdem sich Rost
vor sechs Jahren radikal aus ihrem Leben zurückgezogen hatte. Vorher war er für
Simon ein hingebungsvoller Ersatzvater gewesen, aber dann hatte er praktisch
von heute auf morgen jeden Kontakt abgebrochen. Ohne Erklärung. Simon war zu
Recht vorsichtig, und eigentlich hätte Janina ihm erlaubt, zu Hause zu bleiben.
Aber ihr Plan war, dauerhaft nach Berlin zurückzukehren, und das hier war eine
perfekte Gelegenheit.
    Janina richtete den Blick wieder nach vorne. Vielleicht würde Simon
Berlin gefallen. Darum ging es. Dann könnten sie vielleicht bleiben. Sie hatte
Berlin vermisst. So sehr. Die Weite der Straßen, das viele Grün, die unendlich
vielen Straßencafés im Sommer, die alten, ruckeligen Bahnen. Sie hätte vor
Rührung beinahe geweint, als sie die Treppe zur U6 runtergestiegen waren und
sie zum ersten Mal seit sechs Jahren diesen unverwechselbar dumpfen, leicht
verbrannten U-Bahngeruch eingeatmet hatte.
    Es war ihr nicht schwergefallen, Josef Rost für diese Inszenierung
zuzusagen. Obwohl sie immer noch Wut auf ihn verspürte, war sie zugleich
glücklich, dass er sie nach Berlin zurückgeholt hatte. Endlich zu Hause!
    Janina schreckte erneut hoch, als eine schnarrende Lautsprecherstimme
den Mehringdamm ankündigte. Noch zwei Stationen. Irgendwo in der Stadtmitte
musste sie doch eingenickt sein.
    Simon saß immer noch genauso da wie zuvor: Die Stirn an die Scheibe
gelehnt, die Arme locker im Schoß. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, selbst
wenn sie sich nach vorn beugte, und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass etwas
nicht stimmte.
    Simon?, wollte sie sagen, doch sie bekam keinen Ton heraus.
    Und dann ging auch keine Luft mehr herein, Janinas Hals war wie
zugeschnürt, und sie begann, am Ausschnitt ihres T-Shirts zu ziehen, ihr
Ellbogen traf Simon im Nacken. Statt aufzuwachen und sich zu beschweren, sackte
sein Körper nach vorn, rutschte vom Sitz, und er blieb, das Gesicht gegen
seinen Koffer gepresst, in der engen Lücke zwischen Bank und Gepäck hängen.
    Janina wollte um Hilfe rufen, doch es kamen nur erstickte Laute
heraus, als säße ein zäher Schleim in ihrer Kehle. Vielleicht ein Virus, etwas
Ansteckendes. Vielleicht war Simon bereits daran erstickt. Janina schossen
Tränen in die Augen. Sie musste sein Gesicht sehen! Doch ihr Körper gehorchte
ihr nicht, weil er seinen eigenen Kampf kämpfte. Halb blind vor Tränen erkannte
Janina einen dunklen Schopf, der in der Sitzbank vor ihnen auftauchte.
    Eine Frau.
    Â»Hallo. – Janina?«
    Das Gesicht. Sie kannte es, sie wusste, dass sie den Namen kennen
müsste. Es sollte verschwinden. Etwas daran stimmte nicht.
    Â»Alles in Ordnung?«
    Als die Frau sprach, bewegte sich nur die eine Hälfte ihres Mundes,
die andere hing schlaff herunter. Eine lange Narbe zog sich vom Mundwinkel fast
bis zum Ohr hinauf.
    Janina schüttelte verzweifelt den Kopf, doch der Schleimpfropf in
ihrem Hals ließ keinen Laut nach außen dringen und keine Luft nach innen. Das
Letzte, was sie sah, bevor weiße Blitze das Bild auslöschten, war das schiefe
Lächeln der Frau in der Sitzreihe vor ihr.
    Janina fühlte kalten Wind. Frisch. Luft. Gut. Jemand hielt
ihren Oberkörper in einer halb sitzenden Position aufrecht. Simon.
    Â»Geht’s wieder, Mam?«
    Er lächelte besorgt.
    Und vor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher