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Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle
Autoren: Karla Schmidt
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und Gängelung und Zügelung erfahren, dass sie
Simon auf keinen Fall dasselbe antun wollte. Er war schon als kleiner Junge so
selbstständig gewesen, mit vier Jahren war er zum ersten Mal allein geflogen,
und mit sieben fuhr er allein U-Bahn, hantierte sicher mit Geld und hatte
seinen eigenen Schlüssel. Aber er hatte noch nie woanders gewohnt … Komm schon,
Janina, dachte sie. Lass ihn los! Er ist schließlich fast sechzehn. Schließlich
habe ich mir gewünscht, dass er sich hier wohlfühlt. Offensichtlich war Simon
fest entschlossen, es sich gut gehen zu lassen. Was wollte sie mehr.
    Janina steckte den Zettel in die Hosentasche und nahm den Teller auf
den Schoß. Die Kartoffeln schmeckten dumpf, aber das Fleisch und die Bohnen
waren in Ordnung, und Janina schaufelte beides mit Heißhunger in sich rein.
    Die Schwäche von gestern war endlich verschwunden, und sie fühlte
sich satt und ausgeruht. Schlafen würde sie nun doch nicht mehr können, und
eigentlich wollte sie es auch gar nicht. Da sie schon einmal wach war, meldete
sich endlich die Neugier und die Freude auf die Arbeit, die vor ihr lag. Also
holte sie nach, was sie gestern versäumt hatte, ging duschen, zog sich an und
studierte dann im Schein ihrer Nachttischlampe den Lageplan, den sie an der
Rezeption bekommen hatte.
    Von oben sah der gesamte Flughafen aus wie ein gigantischer, nicht
ganz fertiggestellter Vogel. Das Hotel war im hinteren Teil des Kopfes
untergebracht, im Ansatz des Nackengefieders gewissermaßen. Die Kantine befand
sich im selben Sektor. Dahinter kam ein breiter Hals, dort war die ehemalige
Eingangshalle und darüber, im ersten Obergeschoss, die sogenannte Ehrenhalle,
ein langgestreckter, zehn Meter hoher Saal, in dem Josef Rost Reading Red Shoes inszenieren würde.
    Und die Kostümabteilung war hier im Bettenhaus, zwei tiefer, erstes
Obergeschoss, ganz hinten, die drei großen Räume neben der Küche. Perfekt. Wenn
es dort noch einen oder zwei vernünftige Kühlschränke gab, würde sie auch die
Schweinehäute lagern können.
    Janina würde ihren elektronischen Schlüssel ausprobieren, die
Kostüme runterbringen und nachschauen, ob alles da war, was sie brauchte –
Bügelbretter, Nähmaschinen, Kleiderstangen, Tische …
    Sie stand von der Bettkante auf, schlängelte sich durch den Schlitz
in der Mitte der Vorhänge, öffnete das Fenster, um den dicken, fleischigen
Essensgeruch rauszulassen.
    Unten, in einem der vielen Innenhöfe, erkannte sie den Umriss einer
großen Eiche. Obwohl das Bettenhaus freundlich gestaltet war, fand Janina den
monumentalen Bau plötzlich bedrückend. Der steinerne Reichsadler, den sie außen
an der Fassade gesehen hatte, die schweren Steinplatten, mit denen der
Stahlbetonbau verkleidet war, die trotz Größe und Weitläufigkeit gedrungenen
Proportionen, die Ausstrahlung von Unüberwindlichkeit. Eine Architektur, die
Menschen winzig klein erscheinen ließ, ein Leben in Hallen und Fluchten, deren
Ende man nicht ausmachen konnte. Janina atmete noch eine große Portion
Nachtluft ein, nahm sich vor, in diesem Gebäude nicht verloren zu gehen, und
machte sich auf den Weg.
    Â»Simon! Komm schon!«
    Simon blickte sich vorsichtig um. Die Bettenhauslobby war dunkel,
aber vom Platz der Luftbrücke fiel genügend Licht durch die Fenster herein, um
die Umrisse der Sitzgruppen und Zimmerpflanzen erkennen zu können. Eigentlich
sollte er schlafen.
    Nicht, dass er sich besonders darauf freute, Josef Rost wieder zu begegnen.
Aber wenn es schon sein musste, dann wollte er morgen früh wenigstens nicht wie
ein alter Lumpen aussehen, sondern wie jemand, der keinen Josef Rost brauchte.
    Â»Und wenn wir erwischt werden?«, flüsterte er.
    Â»Ja, was dann, du Emo?«
    Matti riss die Augen auf und starrte Simon an, als ob er
schreckliche Angst hätte.
    Â»Wir fliegen sicher raus.«
    Matti zuckte die Achseln. »Genau. Und?«
    Ja, genau. Und dann? Die Inszenierung interessierte Simon sowieso
nicht im Geringsten. Und Berlin? Hier gab es kein Meer, keine Berge, keine
Freunde … Wenn er Mist baute, würde er vielleicht nach Hause geschickt. Was gar
nicht so schlecht wäre.
    Aber seine Mutter wäre enttäuscht. Vielleicht auch wütend? Traurig?
Er wusste es nicht. Jedenfalls würde es ihr ohnehin schon angespanntes
Verhältnis nicht gerade besser machen, und ihm war nicht wohl bei
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