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Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle
Autoren: Karla Schmidt
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Füßen
getrampelt vor Begeisterung.
    Sie hatten Josef Rosts letzten Willen erfüllt und Reading Red Shoes zu Ende geführt, aber sie hatten dabei
eine Menge von dem weggelassen, was er für das Stück geplant hatte. Die
Schweinehäute. Das viele Blut. Vor allem aber hatten sie DeeDees aufpeitschende
Musik weggelassen. DeeDee hatte die Rechte zurückgezogen.
    Zuerst hatte Janina nicht gewusst, wie sie ohne diese abgründige,
verzweifelte Musik weitermachen sollten, aber schließlich war sie froh darüber
gewesen. Jetzt war es ein Stück über das Leben geworden, ein Tanzstück ohne
jede Musik außer jener, welche die Tänzer mit ihren Füßen, ihren Körpern, mit
ihrem Atem, mit ihrer Freude, ihrer Liebe und ihrer Wut machten. Eine durch und
durch rote Inszenierung.
    Janina und Dave waren sich meistens einig gewesen, wie sie die Sache
anzugehen hatten, und Dave hatte sich als beinharter Perfektionist gezeigt,
hatte keine Gnade bei der Choreographie gezeigt, nicht mit sich selbst, nicht
mit den anderen Tänzern. Ebenso wenig wie Janina, die den Oberbefehl über
Dramaturgie, Bühne, Kostüm und Licht übernommen hatte. Sie waren ein gutes
Team, aber sie hatten sich Zeit gelassen. Ein ganzes Jahr war vergangen, seit
sie und Simon in Berlin angekommen waren.
    Unwillkürlich sah Janina sich nach ihrem Sohn um, es war zu einem
Reflex geworden, seit sie ihn befreit hatten, immer wieder vergewisserte sie
sich, ob er noch da war, ob es ihm gut ging. Ja, er war da, er stand mit Matti
und HahNi zusammen, sie tranken Bier aus Flaschen, und es war offensichtlich,
dass Simon mit HahNi flirtete. Janina war froh, dass seine Lippen kaum verzerrt
oder schief wirkten, wenn er sprach. Lediglich die Unterlippe war nicht mehr
ganz symmetrisch, aber das machte sein Lächeln beinahe noch charmanter. Wenn
man nicht wusste, dass sein Gesicht einmal bis zum Jochbein hinauf
aufgeschnitten gewesen war, sah man es fast gar nicht, der plastische Chirurg
hatte gute Arbeit geleistet. Und Simon war sehr erwachsen geworden im letzten
Jahr, hatte viel geschrieben, um seine Erlebnisse zu verarbeiten, und sein
Vater hatte begonnen, sein offensichtliches Tanztalent zu fördern. Dave und
Simon verstanden sich gut, und Janina war zutiefst dankbar, dass Dave ihm nicht
erzählt hatte, was auf dem Friedhof geschehen war.
    Â»Danke«, sagte sie zu Dave.
    Sie meinte nicht nur die Inszenierung, die sie gemeinsam auf die
Beine gestellt hatten. Sie meinte alles. Dass Dave für Simon da war. Dass er
ihr verziehen hatte. Dass er niemals den Versuch aufgegeben hatte, ihr wieder
zu vertrauen, egal, wie schwer es im letzten Jahr manchmal gewesen war. Dass er
ein echter Freund geworden war.
    Dave legte Janina einen Arm um die Schultern, und sie umarmte ihn
fest.
    Â»Danke«, sagte sie noch einmal.
    Â»Ich danke dir «, antwortete er.
    Das war seine neue Standardantwort. Wann immer jemand Danke zu ihm
sagte, gab er den Dank zurück. Es war eine Angewohnheit, die sich mittlerweile
bei allen verfestigt hatte, die an Reading Red Shoes beteiligt
waren, und das kleine Ritual hatte eine echte Gemeinschaft geschaffen, eine
verschworene Familie, die auf gegenseitigem Respekt gründete.
    Dave löste sich aus der Umarmung und streckte eine Hand aus, um
Helge Schulz zu begrüßen, der vom Buffet kam und einen Teller mit lauter roten
Häppchen in der Linken balancierte.
    Sein Gesicht sah ernst aus, und Janina hatte ein mulmiges Gefühl bei
seinem Anblick. Natürlich hatte sie ihn eingeladen. Natürlich war auch er ein
Freund. Trotzdem fühlte sie sich befangen. Sie hoffte, er würde heute Abend
keines von den unangenehmen Dingen ansprechen, würde kein weiteres der
unzähligen Nachspiele mitgebracht haben, keine neue Anzeige, Klage, keine
weiteren Anhörungen, Gerichtstermine und Urteile. Für ihn war sicher die Phase
am unangenehmsten gewesen, als herausgekommen war, wie viele seiner Kollegen
nicht nur von Hanno Langs Geschäften gewusst hatten, sondern auch Kunden
gewesen waren. Trotzdem hatte er das alles gewissenhaft durchgezogen, und er
würde nicht ruhen, bis auch die letzte kleine Frage geklärt war. Er hatte sich
persönlich dafür eingesetzt, dass Gunnar Lang Arbeit in einer
Behindertenwerkstatt bekam, wo er mit Hingabe Teekannen bemalte. Trotzdem –
Janina konnte die Kanne mit den zarten, weiß-gelben Kamillenblüten auf dem
Deckel, die Schulz ihr mitgebracht
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