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Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle
Autoren: Karla Schmidt
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wenigen
Metern vor der nördlichen Friedhofsmauer. Dahinter war die Straße, und dahinter
die Kleingärten. Sie dachte nicht darüber nach, wie sie ihr Gewicht dort
hinüber bekommen sollte, sie tat es einfach, sprang, zog sich hoch und ließ
sich auf der anderen Seite fallen.
    Â»Simon!«
    Â»Maaaaam!«
    Zu hoch, zu schrill.
    Und dann wieder Stille.
    Es war diese verdammte Kleingartensiedlung, war es von Anfang an
gewesen. Hinter sich hörte Janina Füße, die sich gegen die Mauer stemmten,
bröckelnden Putz. Sie hatte ja gewusst, dass sie nicht allein war, hatte es die
ganze Zeit gewusst. Janina rannte weiter.
    Â»Simon! Ich komme!«
    Als sie sich dem Eisentor näherte, sah sie einen Schatten in der
Dunkelheit davonhumpeln, eine schiefe Gestalt, und die Zusammenhänge
erschlossen sich im Bruchteil einer Sekunde, sie verstand den gesamten Vorgang.
Es war von Anfang an DeeDee gewesen, so wie es von Anfang an um Dave gegangen
war und wie es von Anfang an dieser Garten gewesen war. Sie war so nah dran
gewesen, die ganze Zeit. Und hatte es nicht gesehen.
    DeeDee riss die Tür eines Kleinwagens auf, keine fünfzig Meter vor
ihr, und im selben Augenblick wurde Janina zu Boden gerissen, in den feuchten
Lehm der Straße gedrückt, den Kopf auf der Seite, Blick Richtung Eisentor.
    Â»Janina Zöllner, Sie sind verhaftet.«
    Das war die Stimme des Kommissars, und Janina schluchzte, weil sie
so kurz davor gewesen war, so kurz davor, ihren Sohn wiederzuhaben.
    Leute rannten an Janina und dem Kommissar vorbei, leuchteten mit
starken Taschenlampen hinter DeeDees Wagen her.
    Â»Wir haben das Kennzeichen!«, rief einer.
    Â»Durchgeben!«, rief der Kommissar.
    Â»Simon!«, schrie Janina. Aber sie bekam keine Antwort.
    Als der Kommissar ihre Hände im Rücken mit Handschellen fixierte,
sah sie es. Es war nur eine Ahnung von weißer Haut, ein Knie, das sich unter
dem dichten Schwarz einer Hecke hervorgeschoben hatte.
    Â»Dort, unter der Hecke«, sagte sie atemlos. »Licht!«
    Der Kommissar stand auf, richtete seine Lampe durch das Eisentor und
unter die Hecke, ging näher heran, während Janina hilflos auf dem Bauch lag und
sich nichts sehnlicher wünschte, als aufzustehen und Simon in die Arme zu nehmen.
    Der Körper des Kommissars verdeckte die Sicht. Und die Angst, er
könnte ihren Sohn tot unter der Hecke hervorziehen, raubte ihr beinahe das
Bewusstsein. Aber sie hatte ihn doch eben noch schreien gehört. Das war nur
eine Minute her. Oder weniger.
    Der Kommissar drückte das vom letzten Einsatz lädierte Tor auf. Der
Körper, den er schließlich zum Vorschein brachte, bewegte sich nicht.
    Â»Bitte, machen Sie mich los! Bitte!«, flehte Janina.
    Der Kommissar nahm das Messer auf, das Janina fallen gelassen hatte.
    Â»Machen Sie keinen Ärger?«
    Â»Ich schwöre es. Bei meinem Sohn.«
    Der Kommissar nickte und machte Janina los, und sie kroch auf allen
vieren zu Simon hinüber.
    Kein Zentimeter seines Körpers schien unverletzt, aber am
schlimmsten sah sein Gesicht aus. Die Backenzähne glänzten im Licht der
Taschenlampe durch einen Schnitt in seiner Wange. Seine Augen waren zugeschwollen.
    Vorsichtig nahm sie seinen Kopf in den Schoß, wiegte ihn hin und
her, während der Kommissar zuerst einen Krankenwagen bestellte und dann mit
Janinas Messer Simons Fesseln durchtrennte. Er atmete. Ihr Sohn lebte.

ANFANG
    Â»Auf das Leben!«
    Dave lächelte bei diesen Worten und prostete Janina zu, aber
manchmal, so wie jetzt, war sein Blick immer noch ebenso nackt und verletzlich
wie in dem Moment, als Janina ihm nach der Sache auf dem Friedhof zum ersten
Mal wieder begegnet war. Das war im Krankenhaus gewesen. An Simons Bett.
    Janina hatte Dave vollkommen vergessen, bis zu diesem Moment, hatte
nicht eine Sekunde daran gedacht, dass er immer noch gefesselt vor seinem
eigenen Grab saß und wartete, dass er ebenso gerettet werden musste wie sein
Sohn.
    Â»Auf das Leben«, sagte auch sie, und die gesamte Besetzung und alle
Mitarbeiter, die sich in der roten Halle versammelt hatten, hoben ihre Gläser und
prosteten einander zu.
    Erst jetzt sickerte es langsam in Janinas Schädel ein, dass es
vorbei war. Sie hatten es geschafft! Das Publikum hatte sich verflüchtigt. Sie
waren unter sich. Und die Premiere von Reading Red Shoes war
nicht nur glatt über die Bühne gegangen, sondern die Leute hatten mit den
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