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Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle
Autoren: Karla Schmidt
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ENDE
    Dave rennt, rennt zum Rhythmus der Worte in seinem Kopf,
ein scheppernder Leierkastenwalzer, Maul-hal-ten,
Maul-hal-ten, stolpert, fängt sich, rennt weiter, riecht Erde und
faulendes Laub, links fliegt die Kleingartenanlage vorbei. Der Teich, in dem
sie den ersten toten Jungen gefunden haben, schimmert zwischen den Büschen
hindurch, und rechts die Kirche, hinter der er und Janina sich geliebt haben.
Jetzt über die Straße, dann die Mauer. Wir haben Deinen
Sohn. Wenn Du ihn wiederhaben willst … Friedhof … Grab … Maul halten.
    Er braucht zwei Anläufe, um die obere Kante der Mauer zu erwischen,
seine Schuhe kratzen Putz von den Backsteinen, finden Halt, er zieht den Rest
des Körpers nach und lässt sich auf der anderen Seite fallen.
    Die Taschenlampe macht weißes, kaltes Licht, das er zwischen alten
Bäumen und Gräbern hindurchrucken lässt. Wo soll er anfangen? Wie soll er in
diesen Dutzenden von Reihen, zwischen diesen Hunderten von Steinen den Treffpunkt
finden? Das Licht zuckt nervös, seine Füße beginnen wieder zu laufen.
    Sein Sohn hat dieselbe schmale Nase, die eckigen Augenbrauen,
denselben langen Hals, das dichte, braune Haar. Dave spürt das Gewicht, das ihn
nach unten zieht, die Panik, etwas zu verlieren, das er gerade erst gefunden hat:
Ich habe ein Kind!
    Maul-hal-ten, Maul-hal-ten, Maul-hal-ten.
    Dave rennt, setzt mit einem langen Sprung über etwas Dunkles hinweg,
seine Füße rutschen ab.
    Eine Grube, das muss die Stelle sein, Erde prasselt, er lässt sich
auf alle viere fallen, strampelt sich wieder hoch, wirbelt herum und herum,
sieht nichts, hört nichts, nur das Geräusch seiner eigenen Füße, seines Atems,
seines Herzens: viel zu laut, um irgendetwas anderes zu hören.
    Zwischen der Rückseite eines Grabsteins und der Grube liegt ein
Stück Bauplane, in der Grube ist ein Rucksack und dahinter ein finsteres Areal
mit alten Bäumen. Dave starrt in die Dunkelheit. Nur das Rauschen der Stadt
erinnert ihn daran, dass er sich in Berlin befindet. Das hier könnte jeder
beliebige Dorffriedhof sein, am Rand eines Waldes bis zum Ende der Welt. Hier
ist es. Eine Feststellung, die nicht zu ihm durchdringt, und darum denkt er
noch einmal, diesmal mit Nachdruck: Hier ist es! Wo sind sie? Wo ist Simon?
Dave steht auf. Die Kirchturmuhr schlägt zwei. Er ist allein. Keine Bewegung,
kein Rascheln, kein Husten. Was, wenn ich einfach gehe?
    Was dann? Sie töten deinen Sohn, du Idiot!
    Dave nickt, legt die Taschenlampe weg und greift nach dem Rucksack,
nach dem Zettel darin. Der ihm sagt, was zu tun ist. Der Rucksack stinkt nach
Bier und Gips und Theaterblut, und Dave stößt ein trockenes Husten aus.
Vielleicht ist es auch ein Lachen. Sein Kopf geht nur mit Mühe hinein, der
dicke Stoff lässt ihn kaum atmen. Folgsam setzt er sich auf die Bauplane vor
das Grab, schmiegt den Rücken an den kalten Stein, reckt die Arme nach hinten.
Wartet. Lauscht.
    Schnelle Schritte, leises Klirren. Dann die Kälte von Metall, am
rechten, am linken Handgelenk. Handschellen rasten ein.
    Eine Ewigkeit lang nichts als sein Atem und der jener anderen
Person, beide unregelmäßig und zu schnell. Er versucht, über sein eigenes
Hecheln hinwegzuhören. Ein Schluchzen. Sein eigenes? Das eines anderen? Er ist
sich nicht sicher.
    Maul halten, Maul halten .
    Aber die Frage muss raus, er kann nichts dagegen tun:
    Â»Simon, bist du das? Geht es dir gut?«
    Als Antwort nur ein Keuchen, und ein paar flache, panische Atemzüge
später fühlt er eine Hand, die den Rucksack packt, fest, und seinen Kopf
zurückreißt. Sein Schädel knallt auf den Grabstein. Dann wieder eine Pause, Atmen,
Keuchen.
    Â»Wo ist Simon?«
    Statt einer Antwort wird sein Kopf noch weiter zurückgebogen, er
fühlt, wie seine Halswirbel gestaucht werden, wie die Muskeln zu krampfen
beginnen. Er versucht zu schlucken, doch seine Kehle ist zu stark gedehnt. Sein
Instinkt befiehlt ihm, sich zu wehren, sich loszureißen. Und dann spürt er es,
nicht kalt, sondern heiß, und seine Beine beginnen unkontrolliert zu tanzen,
als die Haut am Hals nachgibt. Als das Blut ihm in den Kragen rinnt.

TAG 1 – VISIONEN
    Neben ihr saß Simon, den Kopf an die Scheibe gelehnt, halb
schlafend. Die U6 ruckelte hin und her, warf Janinas übermüdeten, wattigen Kopf
nach links und nach rechts, und es kam ihr vor, als ob die Fahrt von Schönefeld
nach
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