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Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle
Autoren: Karla Schmidt
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tatsächlich noch etwas wackelig
auf den Beinen und sehnte sich mehr denn je nach einem Bett.
    Neben ihr ging DeeDee mit ihrem Gehstock, der sein regelmäßiges Tock Tock durch den U-Bahnhof hallen ließ. Simon war auf
ihrer anderen Seite, warf ihr wachsame Seitenblicke zu, die Janina peinlich
waren, sie aber auch rührten. Er trug DeeDees Partiturtasche. Janina hätte
gerne gewusst, woher sie die Narben und den Stock hatte, fand es für eine solch
intime Frage nach so langer Zeit aber noch zu früh. Vielleicht in ein oder zwei
Wochen, wenn sie sich wieder ein wenig besser kannten. Janina wurde jetzt erst
bewusst, dass Josef Rost ihr alles Notwendige über die Handlung des Stücks und
sein Inszenierungskonzept gesagt hatte, damit sie Kostüme entwerfen,
Materialien wählen und sich auf die Assistenz vorbereiten konnte.
    Aber er hatte ihr nichts, aber auch gar nichts darüber gesagt, wer
alles an der Sache beteiligt war. Und sie hatte nicht danach gefragt. Es war,
wie immer bei Josef Rost, einfach kein Platz für Fragen gewesen, er war so energisch,
so manisch gewesen, so begeistert, er hatte jeden Winkel ihrer Aufmerksamkeit
ausgefüllt. Und natürlich hatte sie auch eine CD mit einer Demoversion der
Musik gehabt. Natürlich hatte sie sie angehört. Sicherlich hundert Mal. Aber
sie hatte nicht gefragt, von wem sie war.
    Â»Dir ist ein Meisterwerk gelungen«, sagte Janina, und sie meinte es
so.
    Â»Danke«, sagte DeeDee schlicht.
    Warum hatte Janina nicht nachgefragt? Weil sie gewollt hatte, dass
es bei diesem Engagement um Simon und Josef Rost ging. Darum, den Kontakt
wiederherzustellen, sich wieder anzunähern. Sie hatte gehofft, es ginge um sie.
Aber wenn DeeDee ebenfalls hier war … Janinas Herz begann bei diesem Gedanken
mit einem unangenehmen Nachdruck zu schlagen, schwer und langsam, so als sei
ihr Blut plötzlich zähflüssig geworden. Sie hatte nicht gefragt, weil sie die
Hoffnung nicht aufgeben wollte, dass es darum ging, wieder eine Familie zu werden.
Sie hatte sich etwas vorgemacht. Es ging bei dieser Sache um Josef Rost, den
gefeierten Choreographen. Um sonst niemanden. Wie immer, wenn er inszenierte.
    Â»Pass bloß auf mit dem Koffer, das ist mein größtes Heiligtum«,
sagte DeeDee.
    Â»Klar«, gab Simon zurück.
    Ein schlichtes, aufrichtiges Wort. Seit sie von Vancouver
losgeflogen waren, wirkte er zum ersten Mal entspannt.
    Janina fühlte einen Anflug von Erleichterung. Sollte es so einfach
sein? Konnte sie das zu ihrer neuen Hoffnung machen? Einfach hier ankommen, und
schon begann ihr Sohn sich einzuleben, mit Menschen zu sprechen, nett zu sein
und ihr zu verzeihen, dass sie ihn hierher verschleppt hatte?
    Als sie die U-Bahn-Treppe hochkamen und auf die offene Straße
traten, bot sich Janina ein vertrautes Bild. Früher war sie hier öfter angekommen
oder abgeflogen. Aber jetzt war der Flughafen Tempelhof stillgelegt. Der
Eindruck war jetzt etwas anders. Nackter irgendwie. Kälter.
    Sie wandten sich direkt nach links, folgten der engen Biegung des
nordwestlichen Gebäudekomplexes am Platz der Luftbrücke, überquerten den
Columbiadamm und standen nach wenigen Minuten direkt vor dem ehemaligen
Alliiertenhotel.
    Janina wusste nicht, ob sie den Anblick deprimierend oder erhaben
finden sollte. Sie hatte gelesen, dass das Flughafengebäude nach dem Pentagon
und der Nasa immer noch das drittgrößte Gebäude der Welt war. Es war eine halbe
Stadt mit neuntausend Büros, mit Hotels, Hallen, Hangars, Werkstätten, Bunkern,
Fabriken und endlosen Treppen und Gängen, die tief in die Erde hineinreichten.
Und es war konsequent grau.
    Die Fassade des ehemaligen Hotelflügels ragte mit einem leicht
konkaven Schwung vor ihnen auf, in regelmäßigen Abständen waren viereckige
Sprossenfenster eingelassen. Immer noch die originalen Holzfenster aus den
dreißiger Jahren, frisch gestrichen leuchteten sie aus dem alten Fassadengrau
heraus.
    Die Glastüren und das Hotelschild stammten aus den fünfziger Jahren,
und die Innenausstattung der Lobby war ebenso zum größten Teil noch alt und
strahlte einen verwirrend uneinheitlichen Retrocharme aus, der von den
dreißiger bis zu den achtziger Jahren reichte. Abgehängte Decken mit
Neonlichtern, ein abgeschabter, hellgrauer Kunststoffcounter mit abgerundeten
Kanten, ein hellblauer Teppich mit gelbem Flugzeugmuster. Dazu die
Natursteinverkleidung der Wände,
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