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Der Duft der roten Akazie

Der Duft der roten Akazie

Titel: Der Duft der roten Akazie
Autoren: Kaye Dobbie
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    S ie war allein auf einer Lichtung, mitten in einem dunklen Wald, der sie einhüllte wie eine gewaltige lautlose Welle. Und sie fürchtete sich. Doch selbst während die Angst auf sie einstürmte, wusste sie, dass all das schon einmal geschehen war und dass Menschen nach ihr suchten. Wenn sie nur hier auf dieser Lichtung blieb und sich in der Finsternis ganz ruhig verhielt, würde sie gefunden werden.
    Der Wind blähte die Baumkronen wie Segel auf dem Meer. Sie atmete den würzigen Duft der Nadelbäume ein, legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Der Mond stand direkt über ihr und schwebte am tiefblauen Himmel. Er wirkte wie ein gütiger Freund, der auf sie achtete. Sie spürte Bewegung in der Düsternis und hörte Geräusche. Stimmen riefen ihren Namen. Flackernde Fackeln leuchteten durch die dichten Äste. Als sie die Hände in die Dunkelheit streckte, versanken ihre Finger darin. So abscheulich und weich. Wie Schlamm.
    Schlamm. Obwohl sie noch nicht völlig aus ihrem Traum erwacht war, stellte sie fest, dass es sich tatsächlich um Schlamm handelte, ein widerwärtiges Gefühl, das sie jäh in die Wirklichkeit zurückholte. Sie schlug die Augen auf. Sie hatte pochende Kopfschmerzen und sah alles nur verschwommen, konnte allerdings genug ausmachen, um festzustellen, dass es nicht Nacht war. Außerdem befand sie sich nicht in einem Nadelwald, sondern lag, die Füße höher als der Kopf, auf dem Bauch. Wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht plätscherte Wasser. Ihre Wange ruhte in warmem Morast, der muffig und leicht nach verfaulten Pflanzen roch.
    Diese Erkenntnis sorgte dafür, dass sie sich trotz des wellenartigen Brechreizes und ihres dröhnenden Schädels hastig aufrappelte und auf den Knien rückwärtsrutschte. Die flache Böschung, die zum Wasser führte, war mit niedrigem Gestrüpp bewachsen. Nur ein magerer Schössling überragte seine Artgenossen. Sie griff danach und zog sich daran hoch. Als sie sich umschaute, bemerkte sie, dass sie an einer Art Lagune oder, schlimmer, in einem Sumpf gelandet war. Das reglose Wasser sah trübe aus, und außer ihrem eigenen Atem war nichts zu hören.
    Wie in ihrem Traum war sie ganz allein.
    Benommen kam sie zu dem Schluss, dass sich die Lichtverhältnisse auf merkwürdige Weise verändert hatten. Im nächsten Moment aber wurde ihr der Grund klar: Die bereits tief am westlichen Horizont stehende Sonne war im Begriff unterzugehen. Die Bäume sahen mit einem Mal grüner aus, der Schlamm war brauner als zuvor, und das Wasser machte einen düsteren und geheimnisvollen Eindruck. Sie erschauderte. Als sie ihren Kopf berührte, bemerkte sie, dass ihr Haar auf der einen Seite mit Schlamm verklebt war. Beim Versuch, ihn zu beseitigen, ertastete sie eine dicke Beule auf der Kopfhaut, und ein Schmerz durchfuhr sie, von dem ihr wieder übel wurde.
    War sie gestürzt? Oder hatte sie jemand niedergeschlagen? Das kurze Aufflackern einer Erinnerung an Angst und Schmerzen war schon im nächsten Moment wieder verflogen. Erst als sie sich den Vorfall ins Gedächtnis rufen wollte, erkannte sie, dass alles verschwunden war.
    Alles.
    Sie erstarrte vor Schreck. Alles, was gewesen war und noch sein würde, war fort. Ihr Leben hatte sich in eine blank gewischte Schiefertafel verwandelt. Sie war ein Nichts, eine Neugeborene in einer Welt aus Wasser und Sumpf.
    Mit einem erstickten Aufschrei zog sie sich weiter an dem mageren Schössling hoch und spürte, wie er sich unter ihrem Gewicht bog. Doch sie brauchte den Trost eines anderen Lebewesens, auch wenn dieses nicht in der Lage war zu fühlen. Ein Vogel auf dem letzten Ausflug vor Einbruch der Dunkelheit hüpfte schimpfend zwischen raschelndem Laub und Zweigen hin und her. Schließlich landete er auf einem Ast über ihrem Kopf und stieß einen schrillen Ruf aus. Seine Knopfaugen verschwammen und wurden erst zwei, dann vier. Sie schloss die Augen, um wieder klare Sicht zu bekommen. Als der Schwindel endlich nachließ, schaute sie erneut nach oben. Der Vogel war fort. Sie war allein.
    Verzweifelt versuchte sie, sich an irgendetwas zu erinnern, aber vergeblich. Ihr Verstand war wie leer gefegt und hatte sämtliche Bilder ausgelöscht. Ihre Kindheit, ihre Familie, ihr Leben, alles war fort.
    Da muss doch jemand sein, sagte sie sich mit zitternder Stimme, um sich zu beruhigen. Ganz bestimmt sucht jemand nach mir.
    Eine Brise rauschte in den Blättern, als wolle sie ihr antworten. Sie schauderte und spürte, dass sie Gänsehaut auf den Armen
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