Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle
Autoren: Karla Schmidt
Vom Netzwerk:
hereinfiel.
    Â»Das ehemalige Restaurant«, flüsterte Matti.
    Sie standen vor dem großen, verglasten Kasten, der auf das Rollfeld
hinausblickte. Simon betrachtete die modernistische Decke aus wild verwürfelten
Kunststoffelementen und die weinrot gestrichene Rückwand, die dem Raum trotz
des vielen Glases eine unangenehme Enge verlieh. Es stand kein einziges
Möbelstück mehr herum, der Raum war vollkommen leer.
    Oder fast leer. Denn dort, so dicht vor ihnen, dass Simon praktisch
hindurchgesehen hatte, bewegte sich etwas.
    Â»Scheiße«, flüsterte Simon.
    Â»Was?«
    Â»Da ist wer. Er hat uns gesehen.«
    Â»Lass uns verschwinden.«
    Doch Simon konnte den Blick nicht abwenden. Jemand stand an der
Glastür, die ins Restaurant führte. Jemand mit einem bleichen Gesicht,
weißblond.
    Der Junge starrte sie an, regungslos, die Hände an die Scheiben
gepresst, und er kam Simon mehr wie ein Gespenst als wie ein echter Junge vor.
Ein Gespenst, das schwitzte und zitterte und sich krümmte, als ob es sich
gleich übergeben würde.
    Â»Das ist bestimmt ein Fixer«, sagte Matti mit Panik in der Stimme.
»Lass uns besser abhauen.«
    Der fremde Junge zog sich zurück, verblasste, verschwand einfach,
und zurück blieb ein Fleck in Simons Gesichtsfeld, der dunkler wirkte als das
Dunkel drum herum.

TAG 2 – WIEDERSEHEN
    Josef Rost fühlte sich leicht, hohl. Weit unter sich sah
er das helle Rot des frisch verlegten Tanzbodens und die bleiche Latexschicht,
die darüber lag. Das Betonpodest in der Mitte der Ehrenhalle war komplett damit
überzogen, ein großes Quadrat aus Fleisch, bezogen mit dünner, durchscheinender
Haut. Links und rechts davon erstreckten sich hinter zwei freien Flächen, die
für Orchestergräben eigentlich zu schmal waren, die aufsteigenden Sitzreihen.
Die Bestuhlung war mit rotem Plüsch bezogen und verlor sich zu beiden Enden der
Halle im Dunkel.
    Josef Rost ließ sich noch ein wenig höher hinauftreiben, und nach
links, auf die zehn Meter hohen Fenster zu. Erstes fahles Morgenlicht fiel
herein, und er fand es interessant, seinen Körper, der mit von sich gestreckten
Gliedern mitten auf der Bühne lag, aus diesem neuen Blickwinkel zu betrachten.
    Ja, er atmete. Alles gut. Ein Kribbeln durchlief sein Bewusstsein,
dicht hinter sich spürte er das Bröckeln der Betonsäulen, aus denen rostiges
Eisengestänge hervorragte, und über ihm prickelte das verbeulte Gitter in
seiner Aufmerksamkeit, das verkohlten Stuck und Putz auffing, der auch viele
Jahre nach den Sprengversuchen der Sowjets noch immer von der Decke fiel. Ja.
Er fühlte den Nachhall der Explosionen. Er konnte die ganze verdammte Geschichte
dieses Raumes spüren.
    Die verbrannten Stellen an der Decke hatten sie als Einziges nicht
verändert. Aber den Rest der Halle hatten sie komplett rot eingefärbt, alles
rot. Rost schwamm ein wenig weiter in Richtung Dunkelheit, rollte sich dort
zusammen, richtete sich in Lauerstellung ein. Er war ein Fötus, der in einem
viel zu großen Uterus schwamm, so feinfühlig und wach, dass er den Atem des
Gebäudes hörte, spürte, wie sie sich in ihren Betten regten, warm und ein wenig
muffig von der Nacht, wie der heiße Kaffee ihnen die gespitzten Lippen
verbrannte, wie sie sich beäugten und wiederfanden. Und dann kamen sie, er
spürte sie. Sie waren schon ganz nahe …
    Janina war die Erste. Sie war, wie immer, überpünktlich. Ihre
Bewegungen wirkten mühsam, steif, befangen. Mein Gott, ist die fett geworden,
dachte Rost. Massive Brüste, wie Bowlingkugeln. Sein Blick überzog sich mit
einem grauen, leuchtenden Schleier. Immer das linke Auge.
    Dann schwebte er zum Boden zurück, sammelte seine Gliedmaßen ein,
stand auf und ging auf Janina zu, fixierte sie mit dem rechten Auge, um den
Halt nicht wieder zu verlieren. Jetzt musste er auf die Bodenhaftung seiner
Füße achten, durfte die Kontrolle nicht aufgeben. Von diesem Moment an. Bis zur
Premiere. Genau so lange musste er noch durchhalten, bevor er sich für immer
von diesem Hautundknochensack trennen durfte.
    Â»Janina! Endlich!«
    Sie lächelte, kam auf ihn zu. Umarmte ihn, und er drückte fest zu,
hielt sich fest. Ja, diese Frau würde ihn wohl am Boden halten können. Das
hatte sie schon immer gekonnt, auch als sie noch nicht so schwer gewesen war.
Er würde sich in den nächsten Wochen einfach immer ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher