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Erfrorene Rosen

Erfrorene Rosen

Titel: Erfrorene Rosen
Autoren: Marko Kilpi
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Prolog

    Die magere Farbmaus rennt im Laufrad, als ginge es um ihr Leben. Der kleine Junge liegt bäuchlings auf dem Fußboden, das Kinn auf die Hände gestützt, und betrachtet die Maus. Er hat ihren Lauf schon eine ganze Weile beobachtet, wie hypnotisiert von der kreisenden Bewegung.
    Draußen fällt Nieselregen vom Himmel wie ein dünner, leichter Schleier. Der Mann, der über den Hof eilt, weicht den Pfützen aus. Sein dunkler, breitkrempiger Hut und der hochgestellte Mantelkragen scheinen den alles durchdringenden Sprühregen nicht abhalten zu können. Der Mann geht in langen Sätzen die Betontreppe vor dem Holzhaus hinauf und streckt die Hand nach dem Türgriff aus. Durch das Fenster neben der Tür sieht er den kleinen Jungen auf dem Fußboden. Der Mann freut sich, sein Gesicht strahlt. Die Maus war das richtige Geschenk, er hatte es ja gewusst. Die Mutter des Jungen sitzt hinter ihrem Sohn; sie wirkt nachdenklich, besorgt, ihr Blick ist auf irgendeinen Punkt in weiter Ferne gerichtet.
    Plötzlich fährt etwas in den Rücken des Mannes. Kraftvoll, aber auf einer kleinen Fläche. Der Hieb ist bis in den Bauch hinein zu spüren. Zuerst ein scharfer Schmerz, dann wird der Rücken merkwürdig warm. Der Mann dreht sich um und erblickt eine blutige Messerklinge. Im ersten Moment begreift er nicht, was er im schwachen Licht der Hoflampe sieht. Er taumelt die Treppe hinunter, hält sich aber noch auf den Beinen. Er fährt sich mit der Hand an den Rücken, zu der Stelle, wo ihn der Hieb getroffen hat. Der Mann spürt etwas Feuchtes. Er betrachtet seine Hand: Sie hat sich rot gefärbt.
    Erst jetzt wird er auf die dunkle Gestalt aufmerksam, die vor ihm steht. Das Gesicht kann er im Zwielicht nicht erkennen. Er sieht genauer hin, kneift die Augen ein wenig zu.
    »Du …?«, fragt er verwundert, als bitte er um eine Bestätigung für das, was er sieht.
    Im selben Moment legt sich eine Hand auf seinen Mund und das Messer wird in einem heftigen Stoß bis zum Griff in seinen Bauch getrieben. Mehrere Stiche folgen, einer dicht am anderen, wie von einer Nähmaschine gesteppt.
    Die Maus hält inne und springt aus ihrem Laufrad. Sie schnuppert, ihre kleine Schnauze bebt. Die Mutter des Jungen fährt aus ihren Gedanken auf. Ihr ist, als hätte sie etwas gehört, doch sie ist sich nicht ganz sicher. Sie schaut ihren Sohn an. Sie hat eine Ahnung, ein merkwürdiges Gefühl. Als ob sie etwas vergessen hätte oder gerade jetzt irgendwo anders sein müsste. Sie steht auf und tritt ans Fenster. Späht auf den dunklen Hof. Nichts ist zu sehen.
    Der niedergestochene Mann liegt im heftiger werdenden Regen direkt unter dem Fenster, außerhalb des Lichtkegels, der aus dem Zimmer fällt. Aus seinem Mund rinnt Blut, das sich mit den Regentropfen vermischt. Die Tropfen sind jetzt größer. Sie prasseln auf den am Boden liegenden Mann wie tausend Speere. Sein Atem geht nur noch mühsam, röchelnd. Er blickt zu dem Fenster, sieht das Gesicht der Frau, die in die Dunkelheit starrt. Der Mann versucht, etwas zu sagen. Kein Laut ist zu hören, die Lippen bewegen sich langsam. Die Frau wendet sich ab. Der Blick des Mannes wird glasig. Seine Pupillen vergrößern sich. Die Hand sinkt von seinem Bauch in die mit Blut vermischte Regenpfütze.
    Der Mörder steht eng an die Wand gepresst unter demselben Fenster. Er betrachtet den in der Pfütze erstarrten Körper. Nach einer Weile löst er sich von der Hauswand. Wirft einen vorsichtigen Blick auf das Fenster, um sich zu vergewissern, dass niemand zu sehen ist. Fasst die Leiche an den Schultern und schleift sie fort.
    Die Farbmaus ist wieder in ihr Rad gesprungen und rennt, als gebe es kein Morgen.

Erstes Kapitel

    Das Furnierholz an der Tür des Einfamilienhauses ist sonnenverbrannt, der Lack verblichen und blättrig. Olli steht am Fuß der Treppe und mustert die Haustür, ihre aufgequollene Unterkante. Hinter dieser Tür verbirgt sich eine neue Erfahrung. Für ihn jedenfalls ist sie neu.
    Das Haus ist dunkel. Kein Laut dringt heraus. Durch die herbstliche Dämmerung weht ein leiser Wind, der in den Zweigen der Bäume rauschend Fahrt aufnimmt und Olli auf die Tür zuzuschieben scheint. Olli versucht, sich den Anblick vorzustellen, der ihn dahinter erwartet. Sich zu wappnen.
    Er hört Schritte hinter sich. Füße treten das hohe Gras nieder, das den Hof überwuchert, ein Metallkoffer zieht eine gerade Furche in den Wildwuchs. Olli riecht Zigarettenqualm. Ein Geruch, der Trost, sogar Geborgenheit vermittelt.
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