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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers
Autoren: Alice Miller
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noch nicht als solche erkannt werden. Eine ebenso natürliche Reaktion ist die Verzweiflung eines Menschen über sein beschädigtes Leben, die in manchen Traumatherapien durch »positives Denken« beschwichtigt werden soll. Aber gerade die starken »negativen« Gefühle ermöglichen eine Erkenntnis darüber, wie es dem Kind einst bei mißhandelnden oder es »nur« ignorierenden Eltern ergangen ist. Diese Erkenntnis brauchen wir ja, um endlich von den Verleugnungen bzw. den quälenden Mutmaßungen und Zweifeln frei zu werden.
    Die elterliche Grausamkeit ist nicht immer durch Schläge gekennzeichnet (wenn auch ca. 90 % der heutigen Weltbevölkerung in der Kindheit geschlagen wurden), sondern auch und vor allem im Mangel an freundlicher Zuwendung, im Mangel an Kommunikation, im Ignorieren der Bedürfnisse des Kindes und dessen seelischer Schmerzen, in sinnlosen, perversen Strafen, im sexuellen Mißbrauch, in der Ausbeutung der bedingungslosen Liebe des Kindes, in der emotionalen Erpressung, im Zerstören des Selbstgefühls und in den unzähligen Formen der Machtausübung. Die Liste ist unendlich. Und was das Schlimmste ist: Das Kind muß lernen, all dies als ganz normales Verhalten anzusehen, weil es nichts anderes kennt. Jedes Kind liebt seine Eltern bedingungslos, was auch immer sie mit ihm machen.
    Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz beschreibt einmal sehr einfühlsam die Treue einer seiner Gänse zu seinem Stiefel. Dieser war nämlich der erste Gegenstand, den das Gänseküken bei seiner Geburt erblickte. Eine solche Bindung folgt dem Instinkt. Aber würden wir Menschen lebenslang diesem am Anfang des Lebens sehr sinnvollennatürlichen Instinkt folgen, so blieben wir für immer artige Kinder, ohne die Vorzüge des erwachsenen Daseins genießen zu können. Zu diesen gehören aber Bewußtheit, Denkfreiheit, Zugang zu den eigenen Gefühlen und die Fähigkeit, zu vergleichen. Daß Kirchen und Regierungen daran interessiert sind, diese Entwicklung zu erschweren und den Menschen in der Abhängigkeit von Elternfiguren zu belassen, ist allgemein bekannt. Daß der Körper einen hohen Preis dafür bezahlt, ist weniger bekannt. Denn wo kämen wir hin, wenn wir die Untaten der Eltern durchschauen wollten ...? Und wo kämen die Elternfiguren hin, wenn ihre Machtausübung nicht mehr wirkte?
    Daher genießt die Institution »Eltern« heute immer noch eine absolute Immunität. Sollte sich das aber eines Tages ändern (was dieses Buch postuliert), dann werden wir in der Lage sein, zu fühlen, was uns die Mißhandlungen unserer Eltern ausgemacht haben. Dann werden wir die Signale unseres Körpers besser verstehen und mit ihm in Frieden leben, nicht als geliebte Kinder, die wir nie waren und nie werden können, aber als offene, bewußte und vielleicht liebende Erwachsene, die ihre Geschichte nicht mehr fürchten müssen, weil sie diese kennen.
    In den Reaktionen, die ich zu lesen bekam, sind mir noch andere Mißverständnisse aufgefallen, von denen ich hier nur zwei aufgreifen möchte. Sie beziehen sich auf die Frage der Distanz zu den verletzenden Eltern in Fällen von schweren Depressionen und auf meine persönliche Geschichte.
    Zum ersten muß ich darauf hinweisen, daß ich im Buch immer wieder von den verinnerlichten, selten von den realen und nirgends von den »bösen« Eltern spreche. Ich gebe keine Ratschläge für Hansel und Gretel, die selbstverständlich vor den bösen Eltern hätten fliehen müssen,sondern ich plädiere für das Ernstnehmen der echten Gefühle, die seit der Kindheit unterdrückt wurden und im Keller der Seele ihr Dasein fristen. Es ist durchaus möglich, daß manchen Rezensenten ohne jegliche psychologische Ausbildung diese inneren Prozesse vollkommen fremd sind und daß diese dann meinen, ich würde die Leser gegen ihre angeblich »bösen Eltern« aufhetzen. Doch ich hoffe, daß etwas mehr mit dem Seelenleben vertraute Leser das Wort »verinnerlicht« nicht übersehen werden.
    Es würde mich natürlich auch freuen, wenn die Mitteilungen über meine Kindheit auf eine differenzierte und nicht oberflächliche, pauschale Leseart stoßen würden. Seitdem ich mich mit Kindesmißhandlungen beschäftige, wird mir von Seiten meiner Kritiker vorgeworfen, daß ich sie überall sehe, weil ich selbst mißhandelt wurde. Zuerst reagierte ich darauf mit Staunen, weil ich ja über meine frühe Geschichte noch wenig wußte. Heute kann ich mir zwar vorstellen, daß gerade meine abgewehrten Leiden mich zur Beschäftigung mit
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