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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers
Autoren: Alice Miller
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seelischen Verletzungen im Säuglingsalter (Mißhandlungen) wahrzunehmen und die bagatellisierende Haltung der Eltern dem kindlichen Leiden gegenüber zu erkennen. Das wird erst möglich sein, wenn die Arbeit an den Emotionen in die psychoanalytische Praxis Einzug hält, wenn die Entdeckungskraft der Emotionen nicht mehr gefürchtet wird, was ganz und gar nicht mit der Primärtherapie identisch zu sein braucht. Dann kann sich der Überlebende seinen frühesten Verletzungen stellen und sich mit Hilfe des Wissenden Zeugen und der Botschaften seines Körpers den Weg zu seinen Ursprüngen, zu seinem wahren Selbst bahnen. Soviel ich weiß, ist dies im Rahmen der Psychoanalyse noch nicht geschehen.
    In meinem Buch Evas Erwachen (2001) habe ich meineKritik der Psychoanalyse an einem konkreten Beispiel illustriert (S. 149-156). Ich konnte zeigen, daß sogar der weitgehend aufgeschlossene Donald W. Winnicott dem Kollegen Harry Guntrip in dessen Analyse nicht wirklich helfen konnte, weil es ihm unmöglich war, den Haß der Mutter auf das Kind Harry wahrzunehmen. Dieses Beispiel zeigt deutlich die Grenzen der Psychoanalyse, die mich seinerzeit dazu bewogen haben, mich von der Psychoanalytischen Gesellschaft zu trennen und eigene Wege zu suchen, was mir die Position einer abgelehnten Ketzerin verschaffte. Abgelehnt und mißverstanden zu sein ist zwar nicht angenehm, aber die Situation der Ketzerin brachte mir anderseits Vorteile. Sie erwies sich als sehr ergiebig in meiner Forschung, und sie schenkte mir die Freiheit, die ich brauchte, um meine Fragen weiterzuverfolgen. Nun standen mir alle Wege offen, und niemand konnte mir vorschreiben, wie ich denken sollte oder gar müßte, was ich sehen dürfe und was auf jeden Fall nicht. Diese Denk- und Schreibfreiheit schätze ich ganz besonders.
    Dank ihrer konnte ich es mir unter anderem leisten, die Eltern, die die Zukunft ihrer Kinder ruinieren, nicht mehr zu schonen. Damit verstieß ich gegen ein großes Tabu. Denn nicht nur innerhalb der Psychoanalyse, sondern in unserer Gesellschaft insgesamt dürfen Eltern und Familie auf gar keinen Fall als Quelle der Gewalt und des Leidens gezeigt werden. Die Furcht vor diesem Wissen läßt sich deutlich in den meisten TV-Sendungen zum Thema Gewalt beobachten. (Zu diesen Fragen habe ich mich in der letzten Zeit auch in unterschiedlichen Beiträgen auf meiner Webseite geäußert.)
    Die statistischen Erhebungen über Kindesmißhandlung, aber auch die vielen Klienten, die in den Therapien über ihre Erlebnisse als Kind berichteten, führten dazu, daßsich neue Therapieformen jenseits der Analyse etablierten, die sich auf die Behandlung des Traumas konzentrieren und in vielen Kliniken praktiziert werden. Es können auch in diesen Therapien (trotz aller guten Vorsätze, den Klienten empathisch zu begleiten) die echten Gefühle eines Menschen und der wahre Charakter seiner Eltern verschleiert werden, und zwar mit Hilfe von Übungen (Imaginationen und Kognitionen) oder spirituellen Tröstungen. Solche sogenannten therapeutischen Interventionen lenken von den authentischen Gefühlen eines Menschen wie von seiner Realität als Kind ab. Beides (den Zugang zu den Gefühlen und damit zu seinen realen Erfahrungen) braucht der Klient aber, um zu sich selbst finden und so die Depression auflösen zu können. Andernfalls können zwar einige Symptome verschwinden, aber beispielsweise in Form körperlicher Erkrankungen wieder auftauchen, solange die Realität des einstigen Kindes ignoriert wird. Diese kann auch in Körpertherapien ignoriert werden, vor allem, wenn der Therapeut die eigenen Eltern noch furchtet und sie deshalb nach wie vor idealisieren muß. Inzwischen sind viele Berichte erschienen, in denen Mütter (in den Ourchildhood-Foren im Internet auch Väter) ehrlich erzählen, wie sehr sie durch die Verletzungen in ihrer eigenen Kindheit daran gehindert waren, ihr Kind zu lieben. Wir können daraus lernen und aufhören, unentwegt weiter die Mutterliebe zu idealisieren. Dann müssen wir den Säugling nicht mehr als ein schreiendes Ungeheuer analysieren und werden beginnen, dessen Innenwelt zu verstehen, die Einsamkeit und Ohnmacht eines Kindes zu erfassen, das bei Eltern aufwachsen mußte, die ihm jede liebevolle Kommunikation verweigerten, weil sie diese selber nicht kannten. Wir können dann im schreienden Säugling eine logische, berechtigte Reaktionauf zumeist unbewußte, aber faktische, reale Grausamkeiten der Eltern finden, die von der Gesellschaft
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