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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers
Autoren: Alice Miller
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zu überleben.
    Wenn nun beim Erwachsenen die einst unterdrücktenEmotionen manchmal durch ganz banale Ereignisse ausgelöst werden, finden sie kaum Verständnis. »Ich? Angst vor meiner Mutter? Sie ist doch völlig harmlos, behandelt mich freundlich, gibt sich alle Mühe. Wie kann ich denn Angst vor ihr haben?« Oder in einem anderen Fall: »Meine Mutter ist schrecklich. Aber ich weiß es doch, daher habe ich alle Beziehungen zu ihr abgebrochen, bin von ihr total unabhängig.« Das kann wohl für den erwachsenen Menschen stimmen. Es kann aber auch sein, daß in ihm noch das kleine, nichtintegrierte Kind lebt, dessen panische Ängste nie zugelassen, nie bewußt erlebt werden konnten und sich deshalb heute auf andere Menschen richten. Diese Ängste können uns ohne ersichtlichen Grund plötzlich überfallen und in Panik versetzen. Die unbewußte Angst vor der Mutter oder dem Vater kann Jahrzehnte überdauern, wenn sie nicht in Gegenwart eines Wissenden Zeugen erlebt worden ist.
    Bei Anita zum Beispiel zeigte sie sich in ihrem Mißtrauen dem ganzen Klinikpersonal gegenüber und in ihrem Unvermögen zu essen. Das Mißtrauen war zwar oft berechtigt, aber vielleicht nicht immer. Das ist das Verwirrende. Der Körper sagte nur immerzu: Das will ich nicht, ohne sagen zu können, was er wollte. Erst nachdem Anita ihre Emotionen in Susans Gegenwart hatte erleben können, erst nachdem sie in sich die ganz frühen Ängste vor einer emotional völlig verschlossenen Mutter entdeckt hatte, konnte sie sich von ihnen befreien. Von da an konnte sie sich besser in der Gegenwart zurechtfinden, weil sie besser unterscheiden konnte.
    Sie wußte nun, daß sie sich nicht länger anzustrengen brauchte, um Klaus zu einem ehrlichen, offenen Dialog zu zwingen, weil es nur an ihm lag, seine Haltung zu verändern. Klaus hörte auf, ihr Mutterersatz zu sein. Auf deranderen Seite entdeckte sie plötzlich Menschen in ihrer Umgebung, die anders waren als ihre Mutter und ihr Vater und vor denen sie sich nicht mehr zu schützen brauchte. Da sie jetzt mit der Geschichte der ganz kleinen Anita vertraut wurde, brauchte sie sie nicht mehr zu fürchten und in Neuauflagen zu inszenieren. Sie konnte sich immer besser in der Gegenwart orientieren und das Heute vom Damals unterscheiden. In ihrer neuentdeckten Freude am Essen spiegelte sich ihre Freude am Kontakt mit Menschen, die offen für sie waren, ohne daß sie sich anstrengen mußte. Sie genoß den Austausch mit ihnen in vollen Zügen und fragte sich manchmal erstaunt, wo denn das Mißtrauen und die Ängste geblieben waren, die sie so lange von fast allen Mitmenschen getrennt hatten. Sie waren tatsächlich verschwunden, seitdem die Gegenwart nicht mehr so undurchsichtig mit der Vergangenheit verschlungen war.
    Wir wissen, daß viele Jugendliche der Psychiatrie mit Mißtrauen begegnen. Sie lassen sich nicht leicht davon überzeugen, daß man es »gut mit ihnen meint«, auch wenn dies durchaus der Fall sein könnte. Sie erwarten allerlei Tricks, die altbekannten Argumente der Schwarzen Pädagogik zugunsten der Moral, all das, was ihnen von klein auf bekannt und suspekt ist. Der Therapeut muß sich das Vertrauen seines Patienten erst verdienen, aber wie kann er das, wenn sein Gegenüber immer wieder hatte erfahren müssen, daß sein Vertrauen mißbraucht wurde? Muß er nicht monate- oder jahrelang am Aufbau einer tragenden Beziehung arbeiten?
    Ich glaube nicht. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß auch sehr mißtrauische Menschen aufhorchen und sich öffnen, wenn sie sich wirklich verstanden und angenommen fühlen. So ist es Anita ergangen, als sie Nina, demportugiesischen Mädchen, und später Susan, ihrer Therapeutin, begegnete. Ihr Körper hat ihr schnell geholfen, das Mißtrauen aufzugeben, indem er Appetit aufs Essen entwickelte, als er die wahre Nahrung erkannte. Das Angebot eines ehrlichen Verstehenwollens ist sehr schnell erkennbar, weil es nicht vorgetäuscht werden kann. Wenn ein authentischer Mensch dahintersteckt und nicht eine Fassade, wird dies schnell gesehen, sogar von einem argwöhnischen Jugendlichen, doch es darf keine Spur von Verlogenheit in dem Hilfeangebot stecken.
    Das würde der Körper früher oder später merken, und auch die schönsten Worte werden ihn, zumindest auf die Dauer, nicht beirren können.

Zusammenfassung
     
    Das Schlagen kleiner Kinder ist immer eine Mißhandlung mit schwerwiegenden, oft lebenslangen Folgen. Die erfahrene Gewalt wird im kindlichen Körper gespeichert
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