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Kalte Spur

Kalte Spur

Titel: Kalte Spur
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Erstes Kapitel
    Vor ihrer Begegnung mit dem mächtigen Elchbullen, der sie anzugrinsen schien, war es ein guter Tag zum Fliegenfischen für Joe Pickett und seine Töchter gewesen.
    Bis dahin waren Joe, Sheridan und die siebenjährige Lucy gemeinsam mit ihrem blonden Labrador Maxine einen herrlichen Septembernachmittag lang den Crazy Woman Creek hinaufgewandert. Insekten, vor allem Heuschrecken, schwirrten im hohen Ufergras, und der Wind strich durch die Kronen des harzig duftenden Drehkiefernwalds.
    Sie hatten ihre eigene Technik beim Angeln. Während einer sein Glück an einer tiefen, ruhigen Stelle oder dort suchte, wo das Flüsschen verheißungsvoll Fahrt aufnahm, schlichen die anderen in weitem Bogen am Ufer an ihm vorbei zur nächsten Stelle flussaufwärts. Der klare, noch immer sehr kalte Creek führte weniger Wasser als sonst – es war ein trockenes Jahr. Joe war Ende dreißig, schlank und durchschnittlich groß. Gesicht und Handrücken waren durch den Alltag unter freiem Himmel in der Gebirgslage braungebrannt.
    Von einem trockenen Stein zum nächsten springend, hatte er das Flüsschen überquert, um seine Mädchen, die am anderen Ufer mit ihren Fliegenruten hantierten, besser im Auge zu haben. Maxine folgte Joe wie immer auf dem Fuße und widerstand ihrem natürlichen Impuls, die an der Schnur ausgeworfenen Köder zu apportieren.
    Sheridan stand bis zur Taille im Gestrüpp und war nahezu reglos darauf konzentriert, eine Plastikheuschrecke an die Angelschnur zu knoten. Weil ihre Brille in der Nachmittagssonne
funkelte, vermochte Joe nicht zu erkennen, ob sie sah, dass er sie beobachtete. Sie trug ihre Angelweste (ein frisches Geburtstagsgeschenk) und ein T-Shirt, ausgebeulte Shorts und Wassersandalen zum Waten und hatte eine schweißfleckige, von Joe ausrangierte Kappe mit dem Logo der Jagd-und Fischereibehörde Wyoming auf. Ihre Arme und Beine waren von Kratzern übersät, da sie sich durch Dornen und Geäst zum Wasser durchgeschlagen hatte. Das ohnehin ernsthafte Mädchen nahm das Fliegenfischen sehr ernst.
    Doch so hingebungsvoll sie auch bei der Sache war: Die meisten Fische schien Lucy zu erbeuten, und das brachte Sheridan ziemlich aus der Fassung. Lucy teilte die Angelbegeisterung ihrer älteren Schwester nicht und war nur mitgekommen, weil Joe darauf bestanden und ihr ein gutes Essen versprochen hatte. Sie trug ein Sommerkleid und weiße Sandalen und hatte das schimmernde blonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden.
    Mit jedem Fisch, den Lucy fing, sah Sheridan ihre kleine Schwester wütender an und schlug einen weiteren Bogen um sie. Joe wusste, was sie dachte: Das ist nicht fair.
    »Dad, sieh dir das mal an!«, unterbrach sie sein Sinnieren. Er holte die Schnur ein und ging zu seiner Tochter. Sie zeigte auf etwas im Wasser zu ihren Füßen.
    Es war eine tote Forelle, die – den weißen Bauch aufwärts gekehrt – zwischen zwei Steinen trieb. Der Fisch hüpfte auf den Wellen einer kleinen Ausbuchtung des Wasserlaufs, in die die Strömung eine dunkle Schicht aus Kiefernnadeln und Algen getrieben hatte. Der nasse, vinylartige Glanz auf der Unterseite des Tiers und der hellrote Doppelschlitz unter den Kiemen verrieten Joe, dass es noch nicht lange tot war.
    »Ein hübscher Fisch«, sagte Sheridan. »Eine Cutthroat-Forelle. Wie groß die wohl ist?«

    »Etwa fünfunddreißig Zentimeter. Ein Prachtexemplar.« Intuitiv fasste er Maxine am Halsband. Er spürte, wie sie vor Begehren zitterte, den toten Fisch zu apportieren.
    »Was meinst du, was ihr zugestoßen ist?«, fragte Sheridan. »Ob jemand sie gefangen und tot wieder ins Wasser geworfen hat?«
    Joe zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.« Bei einem früheren Ausflug hatte er ihr beigebracht, wie man einen Fisch richtig ins Wasser zurücksetzt. Er hatte ihr gezeigt, wie man ihn am Bauch auf die Hand nimmt und langsam in den Fluss senkt, damit die natürliche Strömung ihn wiederbelebt, und wie man ihn davonzischen lässt, wenn er zu Kräften gekommen ist.
    Sie hatte gefragt, ob es vertretbar sei, erbeutete Fische zu essen, oder ob man sie wieder schwimmen lassen solle, und er hatte geantwortet, Fische seien zum Essen da, doch es gebe keinen Grund, gierig zu sein. Tote Fische den ganzen Tag über in einem heißen Behältnis zu lassen und sie dann wegzuwerfen, weil sie verdorben waren, sei kein juristisches, aber ein moralisches Problem. Er wusste, dass sie nun wieder daran dachte.

    Bald zeigte Sheridan ihm eine weitere Forelle. Sie war noch nicht so lange
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