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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers
Autoren: Alice Miller
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Geschichte. Somit handelt es sich in diesem Buch vornehmlich um den Konflikt zwischen dem, was wir fühlen und wissen, weil es unser Körper registriert hat, und dem, was wir fühlen möchten, um den moralischen Normen zu entsprechen, die wir sehr früh verinnerlicht haben. Es stellt sich heraus, daß unter anderem auch eine ganz bestimmte, allgemein anerkannte Norm, nämlich das Vierte Gebot, uns häufig daran hindert, unsere wahren Gefühle zuzulassen, und daß wir diesen Kompromiß mit körperlichen Erkrankungen bezahlen. Das Buch bringt viele Beispiele für diese These, wobei es nicht ganze Lebensgeschichten erzählt, sondern sich vor allem auf die Frage der Beziehung zu den einst mißhandelnden Eltern konzentriert.
    Meine Erfahrung lehrte mich, daß mein eigener Körper die Quelle aller lebenswichtigen Informationen ist, die mir einen Weg zu mehr Autonomie und Selbstbewußtsein eröffneten. Erst als ich die in ihm so lange eingesperrten Emotionen zulassen durfte und sie fühlen konnte, wurde ich von meiner Vergangenheit zunehmend frei. Echte Gefühle lassen sich nicht erzwingen. Sie sind da und haben stets einen Grund, auch wenn uns dieser sehr häufig verborgen bleibt. Ich kann mich nicht zwingen, meine Eltern zu lieben oder auch nur zu ehren, wenn mein Körper mir das aus Gründen, die ihm gut bekannt sind, verweigert.
    Wenn ich aber trotzdem das Vierte Gebot befolgen will, gerate ich in Streß, wie immer, wenn ich etwas Unmögliches von mir verlange. Unter diesem Streß litt ich beinahe mein ganzes Leben lang. Ich versuchte mir gute Gefühle einzubilden und die schlechten zu ignorieren, um im Einklang mit der Moral, mit dem Wertesystem, das ich akzeptierte, zu bleiben. Eigentlich, um als Tochter geliebt zu werden. Aber die Rechnung ging nicht auf, ich mußte schließlich einsehen, daß ich die Liebe nicht erzwingen kann, wenn sie nicht da ist. Auf der anderen Seite durfte ich erkennen, daß sich das Gefühl der Liebe spontan einstellt, zum Beispiel zu meinen Kindern oder Freunden, wenn ich mich nicht dazu zwinge und nicht den moralischen Forderungen zu folgen versuche. Es stellt sich nur dann ein, wenn ich mich frei fühle und für alle meine Gefühle, auch die negativen, offenbleibe.
    Die Erkenntnis, daß ich meine Gefühle nicht manipulieren kann, daß ich weder mir noch anderen etwas vormachen kann und will, brachte mir eine große Erleichterung und Befreiung. Erst dann ist mir aufgefallen, wie viele Menschen sich beinahe zugrunde richten, wenn sie sich, wie ich es früher auch tat, dem Vierten Gebot zu fügen versuchen, ohne zu merken, welchen Preis sie den Körper oder ihre Kinder dafür bezahlen lassen. Solange sich die Kinder dafür gebrauchen lassen, kann man sogar hundert Jahre leben, ohne seine Wahrheit zu erkennen und an seinem Selbstbetrug zu erkranken.
    Auch eine Mutter, die sich eingestehen muß, daß sie aufgrund ihrer Mangelerfahrungen in der Kindheit ihr eigenes Kind nicht lieben kann, obwohl sie sich sehr darum bemüht, wird mit dem Vorwurf der Unmoral zu rechnen haben, wenn sie diese ihre Wahrheit artikulieren würde. Aber ich meine, daß gerade die Anerkennung ihrer wahren Gefühle, unabhängig von den Forderungen der Moral, es ihr ermöglichen würde, sich selbst und ihrem Kind ehrlich beizustehen und die Kette des Selbstbetrugs zu durchbrechen.
    Wenn ein Kind auf die Welt kommt, braucht es von den Eltern Liebe, das heißt Zuwendung, Beachtung, Schutz, Freundlichkeit, Pflege und die Bereitschaft zu kommunizieren. Mit diesen Gaben fürs Leben ausgestattet, behält der Körper die gute Erinnerung, und der Erwachsene wird später die gleiche Liebe seinen Kindern weitergeben können. Wenn aber all das fehlte, bleibt im ehemaligen Kind eine lebenslange Sehnsucht nach der Erfüllung seiner ersten dringendsten Bedürfnisse. Diese Sehnsucht wird im späteren Leben auf andere Menschen übertragen. Andererseits: Je weniger Liebe das Kind bekommen hat, je mehr es unter dem Vorwand der Erziehung negiert und mißhandelt wurde, desto mehr hängt der Erwachsene an seinen Eltern oder Ersatzpersonen, von denen er all das erwartet, was ihm die Eltern im entscheidenden Moment schuldig geblieben sind. Das ist die normale Reaktion des Körpers. Er weiß, was ihm fehlt, er kann die Entbehrungen nicht vergessen, das Loch ist da, und es wartet darauf, gefüllt zu werden.
    Doch je älter man wird, desto schwieriger wird es, von anderen Menschen die einst ausgebliebene elterliche Liebe zu erhalten. Aber die
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