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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers
Autoren: Alice Miller
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Erkrankungen bei einst mißhandelten Kindern um ein vielfaches größer war als bei Menschen, die ohne Mißhandlungen aufgewachsen sind, auch ohne erzieherische Schläge. Diese hatten sich im späteren Leben nicht über Krankheiten zu beklagen. Der Titel des kurzen Artikels war: Wie man aus Gold Blei macht, und der Kommentar des Autors, der mir seinen Artikel sandte, lautete: Die Resultate sind eindeutig, vielsagend, aber verborgen, versteckt.
    Weshalb versteckt? Weil sie nicht publiziert werden können, ohne daß sich die Anklage gegen die Eltern erhebt, und das ist in unserer Gesellschaft immer noch, heute eigentlich zunehmend, verboten. Denn inzwischen wird von Fachleuten immer stärker die Auffassung vertreten, daß die seelischen Leiden Erwachsener auf genetische Vererbung zurückzuführen seien und nicht etwa auf konkrete Verletzungen und elterliche Versagungen in der Kindheit. Auch die erhellenden Untersuchungen der siebziger Jahre über die Kindheiten der Schizophrenen sind über die Publikation in Fachzeitschriften hinaus einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt geworden. Der vom Fundamentalismus unterstützte Glaube an die Genetik feiert weiterhin Triumphe.
    Mit diesem Aspekt beschäftigt sich der in Großbritannien vielbeachtete klinische Psychologe Oliver James in seinem Buch They F*** You Up (2003). Obwohl diese Studie insgesamt einen zwiespältigen Eindruck hinterläßt, weil der Autor vor den Konsequenzen seiner Erkenntnisse zurückschreckt und sogar ausdrücklich davor warnt, den Eltern eine Verantwortung am Leiden ihrer Kinder zuzuweisen, beweist sie anhand zahlreicher Forschungsergebnisse und Studien schlüssig, daß genetische Faktoren bei der Entwicklung seelischer Krankheiten eine sehr geringe Rolle spielen.
    So wird auch in vielen der heutigen Therapien das Thema der Kindheit sorgfältig gemieden (vgl. AM 2001). Zuerst werden zwar die Klienten dazu ermutigt, ihre starken Emotionen zuzulassen. Doch mit dem Erwachen der Emotionen tauchen gewöhnlich die verdrängten Erinnerungen aus der Kindheit auf, Erinnerungen an den Mißbrauch, die Ausbeutung, die Demütigungen und Verletzungen, die in den ersten Lebensjahren erlitten wurden und die den Therapeuten oft überfordern. Mit alldem kann er nicht umgehen, wenn er diesen Weg nicht selber beschritten hat. Therapeuten, die das getan haben, sind jedoch selten anzutreffen. Also bieten die meisten ihrem Klienten die Schwarze Pädagogik an, das heißt die Moral, die ihn einst krank gemacht hat.
    Der Körper versteht diese Moral überhaupt nicht, kann nichts mit dem Vierten Gebot anfangen, er läßt sich auch nicht mit Worten täuschen, wie unser Verstand es tut. Der Körper ist der Hüter unserer Wahrheit, weil er die Erfahrung unseres ganzen Lebens in sich trägt und dafür sorgt, daß wir mit der Wahrheit unseres Organismus leben können. Er zwingt uns mit Hilfe der Symptome, diese Wahrheit auch kognitiv zuzulassen, damit wir in Harmonie mitdem in uns lebendigen, einst mißachteten und gedemütigten Kind kommunizieren können.
     
    Die Züchtigung zum Gehorsam erfuhr ich persönlich bereits in den ersten Lebensmonaten. Natürlich hatte ich davon jahrzehntelang keine Ahnung. Als Kleinkind war ich nach den Berichten meiner Mutter so brav, daß sie keine Probleme mit mir hatte. Das verdankte sie nach eigenen Angaben ihrer konsequenten Erziehung während der Zeit, als ich ein hilfloser Säugling war. Daher hatte ich so lange keine Erinnerungen an meine Kindheit. Erst in meiner letzten Therapie haben mich meine starken Emotionen darüber informiert. Sie äußerten sich zwar in Verknüpfung mit anderen Personen, aber es gelang mir zunehmend besser, ihren Herkunftsort zu finden, sie als begreifliche Gefühle zu integrieren und so meine Geschichte der frühen Kindheit zu rekonstruieren. Auf diese Weise verlor ich die alten bislang unverständlichen Ängste und konnte dank einer einfühlsamen Begleitung die alten Wunden vernarben lassen.
    Diese Ängste betrafen in erster Linie mein Bedürfnis nach Kommunikation, das bei meiner Mutter nicht nur nie beantwortet, sondern sogar, in ihrem strengen Erziehungssystem, als eine Unart bestraft wurde. Das Suchen nach Kontakt und Austausch zeigte sich zuerst im Weinen, dann im Stellen von Fragen, in Mitteilungen der eigenen Gefühle und Gedanken. Doch für das Weinen bekam ich Klapse, auf Fragen mit Lügen gespickte Antworten, und die Äußerung von Gefühlen und Gedanken wurde mir verboten, der Rückzug meiner Mutter in
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