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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers
Autoren: Alice Miller
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kleinen Kindes vor der Strafe der Eltern, wenn es sich gegen ihr Verhalten auflehnen wollte. Doch sie schlummert nur so lange, wie sie ihm unbewußt bleibt. Einmal bewußt erlebt, löst sie sich mit der Zeit auf.
    Die Moral des Vierten Gebotes, gepaart mit den Erwartungen des ehemaligen Kindes, führt dazu, daß die große Mehrheit der Berater den Hilfesuchenden wieder die Regeln der Erziehung anbietet, mit denen diese bereits aufgewachsen sind. Viele Berater hängen mit unzähligen Fäden ihrer alten Erwartungen an ihren eigenen Eltern, nennen dies Liebe und versuchen diese Art von Liebe auch den anderen als Lösung anzubieten. Sie predigen die Vergebung als einen Weg zur Heilung und scheinen nicht zu wissen, daß dieser Weg eine Falle ist, in der sie sich selbst befinden. Noch nie hat nämlich die Vergebung eine Heilung bewirkt (vgl. AM 1990/2003).
    Es ist bezeichnend, daß wir seit mehreren tausend Jahren mit einem Gebot leben, das bisher kaum jemand in Frage stellte, weil es die physiologische Tatsache der Bindung des mißachteten Kindes an seine Eltern unterstützt. Wir verhalten uns also, als ob wir alle immer noch Kinder wären, die die Gebote ihrer Eltern nicht in Frage stellen dürfen. Doch als bewußte Erwachsene können wir uns das Rechtnehmen, unsere Fragen zu formulieren, auch wenn wir wissen, wie sehr sie einst unsere Eltern schockiert hätten. Moses, der dem Volk seine Zehn Gebote im Namen Gottes auferlegte, war ja selber ein (zwar aus Not, aber doch) verstoßenes Kind. Wie die meisten verstoßenen Kinder hoffte er, eines Tages die Liebe seiner Eltern doch noch mit Leistungen wie Verständnis und Ehrerbietung herbeizuführen. Er wurde von den Eltern ausgesetzt, um ihn vor Verfolgung zu schützen. Doch der Säugling im Weidenkörbchen konnte das kaum begreifen. Der erwachsene Moses würde vielleicht sagen: Meine Eltern setzten mich aus, um mich zu schützen. Das kann ich ihnen doch nicht übelnehmen, ich muß ihnen dankbar sein, sie haben mein Leben gerettet. Das Kind aber konnte gefühlt haben: Warum haben mich meine Eltern verstoßen, warum setzen sie mich der Gefahr des Ertrinkens aus? Lieben mich meine Eltern nicht? Die Verzweiflung und die Todesangst, die im Körper gespeicherten authentischen Gefühle des kleinen Kindes, werden in Moses weitergelebt und ihn gesteuert haben, als er seinem Volk den Dekalog schenkte. Das Vierte Gebot kann, oberflächlich betrachtet, als eine Lebensversicherung der alten Menschen gesehen werden, die damals, nicht aber heute, in dieser Form nötig war. Doch bei näherem Zusehen enthält es eine Drohung oder gar eine Erpressung, die bis heute wirksam ist. Sie heißt: Wenn du lange leben willst, mußt du deine Eltern ehren, auch wenn sie dies nicht verdienen, sonst mußt du vorzeitig sterben.
    Die meisten Menschen halten sich an dieses Gebot, obwohl es verwirrend und angsterzeugend ist. Ich denke, daß es an der Zeit ist, die Verletzungen der Kindheit und deren Folgen ernst zu nehmen und uns von diesem Gebot zu befreien. Das heißt nicht, daß wir unseren alten Eltern mitGrausamkeit ihre grausamen Taten heimzahlen müssen, sondern das heißt, daß wir sie sehen müssen, wie sie waren, wie sie mit uns als kleinen Kindern umgingen, um unsere Kinder und uns selbst von diesem Muster zu befreien. Wir müssen uns von den verinnerlichten Eltern trennen, die in uns weiter ihr Zerstörungswerk fortsetzen, nur so können wir unser Leben bejahen und uns zu respektieren lernen. Von Moses können wir das nicht lernen, weil er mit dem Vierten Gebot den Botschaften seines Körpers untreu geworden ist. Er konnte gar nicht anders, weil diese ihm unbewußt waren. Aber gerade deshalb sollte dieses Gebot keine zwingende Macht über uns haben.
    In all meinen Büchern habe ich auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Zusammenhängen aufzuzeigen versucht, wie die Erfahrung der Schwarzen Pädagogik in der Kindheit später unsere Lebendigkeit einschränkt und das Gefühl dafür, wer wir eigentlich sind, was wir fühlen und was wir brauchen, erheblich beeinträchtigt oder gar abtötet. Die Schwarze Pädagogik züchtet angepaßte Menschen, die nur ihrer Maske vertrauen können, weil sie als Kinder in ständiger Angst vor Bestrafung lebten. »Ich erziehe dich zu deinem Besten«, hieß das oberste Prinzip, »und auch wenn ich dich schlage oder mit Worten quäle, geschieht das nur zu deinem Vorteil.«
    Der ungarische Schriftsteller und Nobelpreisträger Imre Kertész erzählt in seinem
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